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Jahrbuch 2000 für Steglitz - "...tief dankbar, dass ich in Steglitz wohne"
Franz Kafka in Berlin

"Prag lässt nicht los. Uns beide nicht. Dieses Mütterchen hat Krallen.", schreibt der neunzehnjährige Franz Kafka 1902 an einen Freund und fragt ihn dann scherzhaft, ob sie sich fügen oder nicht lieber Prag an zwei Enden anzünden sollten, um von dort fortzukommen.

Dies sind die ersten Zeilen, in denen Kafßka sein Verhältnis zu seiner Geburtsstadt an der Moldau beschreibt. Und jeder, der diese in ihrer Schönheit beeindruckende Stadt besucht hat, wird nur verständnislos den Kopf schütteln. Warum denn fort aus dieser Weltstadt, die doch alles zu bieten scheint?

Aber Prag, das ist ja für Kafka nicht nur sein Heimatort, wo er aufgewachsen war und wo er Freunde gefunden hatte; eine Stadt, die ihn durch seine schmalen, alten Gassen bezaubert und sein schriftstellerisches Werk geheimnisvoll durchdringt. Nein, Prag ist auch zeitlebens für ihn "etwas sehr Unheimatliches, ein Ort der Erinnerungen, der Wehmut, der Kleinlichkeit, der Scham, der Verführung, des Missbrauchs der Kräfte". Durch die familiäre Gebundenheit gegenüber seinem Elternhaus fühlt er sich zudem stark einigeengt. Es drängt Kafka dehalb hinaus aus dieser zu mütterlichen Stadt, deren Nabelschnur ihn in Unselbstständigkeit festhält.

Berlin besucht Kafka wahrscheinlich das erste Mal Ende 1910. Eine Woche lang erkundet er die deutsche Metropole, genießt das kulturelle Angebot der Theater und schreibt begeistert Postkarten an seine Freunde in Prag.

Doch erst vier Jahre später setzt sein erster Versuch ein, in Berlin Fuß zu fassen. Kafka hatte inzwischen die Berlinerin Felice Bauer kennengelernt, sich in sie verliebt und war mehrmals für einige Tage zu ihr gefahren, um sich dann mit ihr im April 1914 zu verloben.

Euphorisch schreibt er: "Wunderbar ist es, von zuhause wegzukommen, noch wunderbarer nach Berlin zu kommen.", "...das Wichtigste ist, dass ich von Prag wegkomme." und "...Berlin tut mir von allen Seiten gut".

Aber schon bald stürzt die Beziehung zu Felice in eine schwere Krise, die zur Auflösung der Verlobung nach nur drei Monaten führt. Die Entlobung im Houtel Askanischer Hof am Anhalter Bahnhof in Gegenwart der Eltern von Felice wird für Kafka zu einer Art "Gerichtshof". Von Schuld bedrückt und von Bauchschmerzen geplagt, sitzt er später am Abend einsam am Prachtboulevard Unter den Linden. Aus mangelndem Selbstvertrauen findet Kafka nun nicht mehr die Kraft, völlig auf sich allein gestellt, seinen Übersiedlungsplan zu verwirklichen. Resigniert fährt er zurück nach Prag.

Von der Krankheit gezeichnet:

Das letzte Foto von Franz Kafka
(In Berlin aufgenommen)

In dieser Villa wohnten Franz Kafka und Dora Diamant
Archiv: HV Steglitz Foto: susch
In den folgenden Jahren scheitert eine zweite Verlobung mit Felice und Kafka muss sich in mehreren Kurorten von der Zerrüttung seiner Gesundheit erholen. Den Traum, doch noch eines Tages in Berlin zu leben, gibt er aber nicht auf. Denn der graue Beamtenalltag des Verwaltungsjuristen tut ein übriges, um Kafka feststellen zu lassen: "... mein Leben in Prag führt zu nichts Gutem".

Kafka packt seine Koffer und zieht gegen den Widerstand seiner Eltern am 24. September nach Berlin. Dort bezieht er mit Dora ein Zimmer im dritten Stock des Hauses Miquelstraße 8 im Bezirk Steglitz. Der Krieg ließ von diesem Gebäude in der heutigen Muthesiusstraße 20-22 nichts bestehen.

Kafka ist glücklich. Er findet endlich nach vielen verzweifelten durchwachten Nächten wieder zu ruhigem Schlaf. "... diese Übersiedlung nach Berlin war großartig", schreibt er an seinen Freund Max Brod und vergleicht dann diese "Tollkühnheit" mit seiner typisch ironisch-pessimistischen Art mit dem Feldzug Napoleons nach Russland.

Steglitz, das erst 1920 Berliner Verwaltungsbezirk wurde, ist in seinem halb ländlichen Charakter für Kafka eine wunderbare Umgebung. Er taucht in die "stillen herbstlichen Alleen", spaziert im nahen Botanischen Garten oder im Stadtpark und spürt Erleichterung von seinem Nerven- und Lungenleiden.

Die Innenstadt Berlins dagegen fürchtet Kafka. Am Zoo verliert er fast seine Atemfähigkeit, kann dem "grausamen ... Druck" und allen Drohungen dieser wilden Stadt kaum Widerstand leisten. "Der Weg in die Stadt war jedesmal für ihn wie ein Golgatha. Er brach beinahe physisch darunter zusammen", erinnert sich Dora. Doch auch hier fand Kafka einen "Friedensort": Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in der Artilleriestraße 14 (heute Tucholskystraße 9). Zweimal in der Woche hört er dort Vorträge über den Talmud und liest hebräische Texte. Ansonsten hält Kafka sich aber von der inneren Stadt fern und berichtet: "... von fast allen Ausflügen nach Berlin kam ich elend zurück und tief dankbar, dass ich in Steglitz wohne".

Mit der Zeit kommt es allerdings zu Spannungen zwischen ihm und seiner Zimmerwirtin Frau Hermann. Da diese an Kafka immer etwas auszusetzen hat und sich fortwährend ärgert, zieht er mit Dora schließlich Mitte November aus. Eindrucksvoll beschreibt er später die ständigen Querelen in der Erzählung "Eine kleine Frau". Wenige Straßenecken weiter in der Grunewaldstraße 13 finden beide eine möblierte Zweizimmerwohnung im ersten Stock. Kafka scheint es, dass er "noch niemals eine so schöne Wohnung hatte", und fühlt sich auch weiterhin "durch die Steglitzer Luft verwöhnt".

In dieser Situation bricht wie ein unerreichbares Strafgericht der katastrophale Inflationswinter 1923/24 ein. Die Preise steigen in schwindelerregende Höhen und lassen Kafkas Rente in seinen Händen verrinnen. Nach dem zunächst so verheißungsvollen Einstieg in einen neuen Lebensabschnitt sieht Kafka sich jetzt unvermittelt hilflos der gewaltigen Teuerungslawine gegenüberstehen. Ihm bleibt daher nichts anderes übrig, als sich aus Prag geld und Lebensmittelpakete von der Familie schicken zu lassen. Seine gerade erreichte Selbstständigkeit beginnt damit aber, wie er fürchtet, zu bröckeln. Zu allem Unglück erkältet sich Kafka auch noch zur Weihnachszeit und muss nun vier Wochen lang mit hohem Fieber das Bett hüten, derweil Dora das Essen auf Kerzenstümpfen erwärmt.

Doch trotz dieser widrigen Umstände verzweiifelt Kafka nicht, sondern stürzt sich in die Arbeit: Nach fünfjähriger pause entschließt er sich, jetzt wieder ein Buch zu veröffentlichen. Dazu erledigt er die Verhandlungen mit dem Verlag und nimmt sich dann die Korrekturen zu dem Band "Ein Hungerkünstler" vor. Außerdem schreibt er nebenbei an einer neuen Erzählung mit dem Titel "Der Bau". Dort heißt es unter anderem: "Ich lebe im Innersten meines Hauses in Frieden, und inzwischen bohrt sich langsam und still der Gegner von irgendwoher an mich heran." Dieser Gegner ist nichts anderes als die ihn seit Jahren verfolgende Tuberkulose, welche jetzt wieder zugepackt hat und mit ihm ringt.

Als Kafka schließlich am 1. Februar "als armer zahlungsunfähiger Ausländer" aus der Wohnung vertrieben wird und nach Berlin-Zehlendorf in die Heidestraße (heute Busseallee 7-9) umziehen muss, verschlechtert sich sein gesundheitlicher Zustand immer mehr. Kafkas nach dem Rechten schauender Onkel, der Landarzt Löwy, ist über den körperlichen Verfall seines Neffen entsetzt und überredet ihn, endlich in ein Sanatorium zu gehen. Kafka schreibt: "Sehr ungern gehe ich von hier fort, aber den Gedanken ans Sanatorium kann ich doch nicht ganz abweisen...". Am 17. März 1924 ist es soweit: Max Brod bringt seinen kranken Freund zurück nach Prag. Dort wohnt Kafka zunächst mehrere Wochen bei seinen Eltern, bis er Aufnahme in einem Sanatorium bei Wien findet. Wieder von der Pflege seiner Eltern abhängig, sieht der Vierzigjährige das Scheitern seiner Selbstständigkeit als persönliche Niederlage an. Wenige Monate nachdem er Berlin verlassen musste, stirbt Franz Kafka.

Dora Diamant fasst zusammen: "Das Sichlosbrechen von Prag war, wenn auch sehr spät, große Lebensleistung ... Die Rückkehr ins Elternhaus war die Rückkehr in den Lebensdilettantismus. Das hat Kafka besonders gequält, und man merkte es an dem seelischen Druck, dem er unterlag." Und Ernst Weiß, ein Berliner Freund Kafkas, der ihm schon 1914 bei seinem Übersiedlungsversuch zur Seite stand, stellt fest: "Die Tagebücher haben mir gezeigt, dass er in tragischer Weise Prag verhaftet war. ... er musste an Prag zugrunde gehen."

Warum aber konnte nach alledem der sonst so treue Freund Max Brod in einer Rede über Kafka ausgerechnet berichten: "Er liebte Prag ... "? Nun, die Erklärung dafür ist einfach: Der Vortragsort war Prag.

Eike Schmidt