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Jahrbuch 1999 für Steglitz - Heinrich Seidel

Heinrich Seidels - Leberecht Hühnchen - 1842-1906

"Leberecht Hühnchens Frohsinn ist von jener entzückenden Art, wie die kindlich Gläubigen ihn so oft haben, die nichts anderes wissen, als daß Gottes gütige Vaterhand sie jeden Augenblick hält, trägt und schützt." So lobte Theodor Fontane, ein Freund Heinrich Seidels, das Buch, durch das der Schriftsteller noch heute weiterlebt.

"Die Konstruktion der Anhalter Bahnhofshalle ist entschieden ruhmwürdiger als der Roman," beurteilte der Verleger Ernst von Wolzogen die Geschichte des Lebenskünstlers Leberecht Hühnchen. Jean Paul sprach die Warnung aus: "sich auf den Roman nichts einzubilden" und Uhland lächelte nur vielsagend. Wir sehen: das "Literarische Quintett" hat durchaus seine Vorbilder..

Ob nun Verriß oder Lob, das Buch hatte um die Jahrhundertwende in jedem bürgerlichen Bücherschrank seinen Platz.

Heinrich Seidel hatte den Ingenieurberuf 1880 aufgegeben um seiner Berufung als Schriftsteller zu folgen. In seinen Lebenserinnerungen "Von Perlin nach Berlin" berichtet er voller Stolz über die Konstruktion des Daches der Ankunftshalle vom Anhalter Bahnhof: -.. die einmal durch meinen Kopf gegangen ist. Die Spannweite betrug 62,5 m, ..zum ersten Mal auf dem ganzen Kontinent geplant und ausgeführt."

Auch fühlte er Genugtuung, daß er sich nicht als Erfotgloser für die Schriftstellerei entschieden hatte. In den ersten Jahren auf seinem nun eingeschlagenen Weg mußte er Ablehnung und Interessenlosigkeit hinnehmen: "Ich fange an, es schon manchmal zu bereuen, daß ich gerade in dem Augenblick, wo ich im Begriff war, ein berühmter Ingenieur zu werden, diesen schönen Beruf aufgab und mich gänzlich der undankbaren Göttin Poesie in die mageren Arme warf".

Erst ab dem Jahr 1888 "entstanden überall Gönner und Freunde meiner Schriften".

Seine exakten Schilderungen von Landschaften und allem, "was da kreucht und fleucht" hat er durch naturwissenschaftliche Studien erworben. Doch seine Prämisse war: "dem geschauten Leben etwas vom Glanz und Schimmer des Märchens zu verleihen." Ebenso war es eine Passion von ihm "Menschen zu sammeln", ihre Eigenarten in sich aufzunehmen und diese dichterisch zu überhöhen. So hat er eine Reihe der skurrilsten und liebenswertesten Charaktere erschaffen, wobei wir nun wieder bei Leberecht Hühnchen sind. Mit diesem überaus liebenswerten Menschen hat Heinrich Seidel einem Studienfreund ein Denkmal gesetzt, und nebenbei auch ein klein wenig der Steglitzer Albrechtstraße:

"Bemerkst Du nicht etwas wohlhabendes an mir, sieht man mir nicht auf hundert Schritte an, daß ich Grundeigentümer und Hausbesitzer bin, ... ich habe mir in Steglitz ein Haus gekauft mit einem Garten. Es ist zwar nur klein, aber sehr niedlich. Du mußt nicht denken, daß es eine sogenannte Villa ist."

"Ich suchte, so gut ich es vermochte, am Entzücken meines Freundes teiLzunehmen und das gepriesene Idyll zu besichtigen ... Es war ein kleines erbärmliches Häuschen, aber, was die Leute daraus gemacht hatten, das war wunderbar."

Natürlich wurde das Haus "Villa Hühnchen" genannt und alle, die darin residierten, erlebten in ihm glückliche Stunden über viele Jahre.

Doch eines Tages berichtet Hühnchen: "... er (ein Bauherr) hat sein Gebot für Haus und Garten noch erhöht.. wenn man bedenkt, unser kleines freundliches Häuschen mit seinem kleinen niedlichen Garten soll vom Erdboden verschwinden, um von so einem modernen Mammutsungetüm von Mietskaserne überschluckt zu werden wie ein unschuldiges Kaninchen von einer Boa Constrictor, da möchte man weinen." Beinahe unnötig zu erwähnen, daß eines der letzten Kapitel über den zauberhaften Menschen den Titel "Ein neues Haus und ein neues Leben" trägt.

Heinrich Seidel wohnte von 1895 bis zu seinem Tode 1906 in der Boothstraße 29, sein Grab liegt auf dem Lichterfelder Friedhof in der Moltkestraße.

Wenn auch die meisten Werke des Dichters zu Unrecht der Vergessenheit anheimgefallen sind, so wird der geneigte Leser sich doch der beiden zauberhaften Gedichte erinnern: "Bei Goldhähnchens war ich jüngst zu Gast ..." und: Auf einer Meierei -da war einmal ein braves Huhn ...", die, wie sein Leberecht Hühnchen, dieses Jahrhundert überlebt haben.

(Barbara Kobek)