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Jahrbuch 1999 für Steglitz - Lichterfelde West

Von einem silbernen Löffel, dem Dackel Max und einer Lichterfelder Familie im Wandel der Zeiten

Betritt der Besucher Lichterfelde West vom Bahnhof her, ist er mitten im geschäftlichen Leben. Trotz der nicht zu übersehenden Filialbetriebe, die, wie überall in Berlin, auch hier ihr uniformes Gesicht zeigen, bleibt dem interessierten Besucher nicht unbemerkt, daß an einigen Läden dezente Hinweise ihrer Gründung angebracht sind.

1830, 1859, 1892, 1894, 1897, 1900. Von diesen Geschäften sind einige noch heute im Besitz der Gründerfamilien. Danowski 1892 (Uhren und Schmuck), Emisch/Schnoor 1900 (Immobilien), Osche 1894 (Eisen-, Garten- und Haushaltswaren). Nicht zu vergessen sind die vielen Ärzte, die ihre Lebensaufgabe zum Wohle der Lichterfelder vollbrachten und deren Söhne oft dieses Werk fortsetzten, sie leisteten manchmal mehr als vier Generationen einer Familie Beistand. Verläßlichkeit im geschäftlichen Leben war in diesen Familienbetrieben selbstverständlich, Veränderung nur, wenn diese geboten war. Einer jener uralten Lichterfelder Familienbetriebe ist das Augenoptikgeschäft Schulze-Gunst in der Curtiusstraße 6. Sein heutiger Inhaber, Dieter Schulze-Gunst (56 Jahre), der den Betrieb in der dritten Generation leitet, erinnert sich:

Als mein Großvater, Wilhelm Schulze am 1. Oktober 1894 in der Kyllmannstraße eine Reparaturwerkstatt für Uhren und optische Geräte gründete, war das Gebiet in Lichterfelde West noch kaum bebaut. In der Dämmerung konnte man damals vom Bahnhof der Wannseebahn aus die Lichter der Kadettenanstalt (1872-1876) sehen. 1901 (??) zog der Betrieb meines Großvaters in neu errichtete Geschäftsräume am umbauten Karlsplatz, in die Ringstraße 71/Ecke Sternstraße (heute Kadettenweg). In das Schaufenster baute er eine riesige Uhr von 1,20 m Durchmesser. Diese sollte von nun an alten Anwohnern und Durchziehenden die Zeit zeigen, wenn der Weg sie in die Stadt führte, und sie bestimmte den Laufschritt ungezählter Kinder auf dem Weg zur Schule.

Der Bahnhof Lichterfelde West lag zwischen Potsdam und Berlin. Nun muß man wissen, daß die Kadettenanstalt, sie beherbergte ca. 1000 Kadetten, nicht nur Ausbildungsstätte der Militärwaisen, sondern wichtige, wenn nicht die wichtigste schulische Ausbildungs- und Erziehungsanstalt des militärischen Nachwuchses Preußens, auch aus dem Hochadel, war. Wer aus Berlin kam, brauchte 18 Minuten mit der Bahn, und alle mußten dann den Weg vom Bahnhof zur Kadettenanstalt, die Carl- und Sternstraße (heute Baseler Straße und Kadettenweg) nehmen, direkt an Großvaters Laden vorbei. Das Geschäft hatte also einen äußerst günstigen Standort.

Aus dieser Zeit erzählte der Großvater von einer Reihe netter Begebenheiten, zum Beispiel die Geschichte vom silbernen Löffel der Familie zu Thurn und Taxis. Die Kadetten, sie wurden als Jungs aufgenommen, wurden finanziell sehr kurz gehalten. Das bedeutete vor allem für die Kadetten aus dem Hochadel eine drastische Umstellung. Zum Monatsende kam es deshalb nicht selten vor, daß der Monat langsamer verging, als die Einteilung des Taschengeldes es vorsah. Auch wenn die kleinen, hochgestellten Persönlichkeiten knapp bei Kasse gehalten wurden, so hatten sie doch zumeist eine gute technische Ausstattung, z.B. Uhren. Diese brachten sie in Kontakt zum Großvater. Er war sehr gesellig und wurde oft als gemütlicher Mensch geschildert. Ein intensiver Kontakt stellte sich auch zu einem Sproß der Familie derer zu Turn und Taxis her. Auch hier war die Apanage kürzer als der Monat und der Großvater streckte vor. Unaufgefordert wechselte ein silberner Löffel mit fürstlichem Wappen den Besitzer. Den Rest des Monats wurde mit Blech gegessen, und am Monatsanfang wurde der Löffel wieder ausgelöst. Der Löffel tat nun bis zur Mitte des Monats seinen eigentlichen Dienst, um dann wieder versetzt zu werden. So ging das bis zur Reifeprüfung. Als der Abschied kam, schenkte der junge Thurn und Taxis dem Großvater den Löffel zum Andenken und zum Dank, dessen Enkel die nette Erinnerung bis heute bewahrt.

1912 eröffnete mein Großvater in der Carlstraße 4 (heute Baseler Straße 12) eine Filiale für Uhren, Brillen und optische Artikel, die von meiner Tante Charlotte geführt wurde. Mein Vater Alfred und mein Onkel Georg, beide Uhrmachermeister, mein Vater hatte zusätzlich den Meistertitel des Augenoptikerhandwerks, arbeiteten beide im Hauptgeschäft. Nur mein ältester Onkel Willi (geboren 1891) durfte wegen der "unsicheren Zeiten" den Beruf des Uhrmachers nicht erlernen, sondern mußte Verwaltungsbeamter werden, obwohl die Uhrmacherei sein Herzenswunsch gewesen ist und seine schulischen Leistungen in Physik und Mathematik überdurchschnittlich gut waren. Hauptgeschäft und Filiale lagen 600 Meter voneinander entfernt. Dadurch entstand ein Organisationsproblem. In beiden Geschäften unterhielten wir Werkstätten. Es kam vor, daß Ersatzteile benötigt wurden, deren Menge am Lager bei Brillen und Uhren vertretbar klein war. Welcher Technik sollte man sich nun bedienen, um schnell Ware vom einen zum anderen Geschäft zu bringen? Dieses Transportmittel hieß Max und war ein hochbeiniger schwarzer Kurzhaardackel. Er bekam, ähnlich wie seine Schweizer Bernhardiner "Kollegen", einen Lederbeutel um den Hals und wurde so auf "Reisen" geschickt. In der Baseler Straße fuhr damals von der Ringstraße bis zum Gardeschützenweg eine Straßenbahn, die "Elektrische". Die Straßenbahnfahrer kannten Max und wenn sie ihn im "Dienst" sahen, schwangen sie die Glocke. Max sprang auf die Elektrische, in Höhe von Osche wieder runter und rein in die Filiale.

Die Filiale entwickelte sich gut, mein Vater Alfred machte sie schließlich zum Hauptgeschäft und siedelte 1934 in die Baseler Straße 10 um (heute Litehaus). Die zwanziger Jahre waren gewiß nicht allgemein die "goldenen", wie sie immer wieder genannt werden. Die Kaufkraft der Kundschaft war begrenzt, Notwendigkeiten wie Brillen mußten immer im Haushaltsbudget extra eingeplant werden. Ebenso eine Dienstleistung, die wir heute gar nicht mehr kennen: das Uhrenaufziehen im Abonnement. Die damaligen Uhren, der Stolz der Hausherren, waren derart sensibel, daß sie vom angestammten Platz nicht entfernt oder verschoben werden durften, da sich sonst der Gang der Uhr änderte und sie stehen blieb. Also mußte der Fachmann ran. Diese Dienstleistung wurde übrigens noch bis 1960 von uns erbracht.

Doch zurück zu den dreißiger und vierziger Jahren. Steglitz war eine Hochburg der Nazis, Lichterfelde West nicht. Als der militärische Gruß durch "Heil Hitler" ersetzt wurde, grüßten hier auch hohe Militärs mit "Grüß Gott", soweit dies möglich war. Mit den Jahren wurde immer auffälliger, daß einige alte Kunden, Lichterfelder jüdischen Glaubens, nicht mehr gesehen wurden. Als meine Eltern gewisse Schilder, die die Kunden selektieren sollten, nicht an die Eingangstür anbrachten und auch der zweite Eingang des Geschäftes, der Seiteneingang, für alle Kunden offen stand, wurde der Laden nach erfolglosen "Belehrungen" für eineinhalb Jahre, bis zum Kriegsende, geschlossen.

Seit 1968 führt jetzt Dieter Schulze-Gunst das Geschäft in der dritten Generation, zusammen mit seiner Frau Maria. 1975 erfolgte der Umzug an seinen jetzigen Standort in der Curtiusstraße 6, in das Paul-Emisch-Haus. Und heute konzentriert man sich hier ganz auf die Augenoptik und Kontaktlinsen. "1968, als wir die Verantwortung übernahmen, waren wir beide noch ziemlich jung, meine Frau 22 und ich 26 Jahre alt. Das Geschäft war damals noch immer in zwei Bereiche aufgeteilt, Uhren/ Schmuck einerseits und Augenoptik andererseits. Eine Zeitlang war ich als Vorsitzender der Berliner Juweliere tätig. Meine Profession lag aber auf dem Gebiet der Augenoptik, und so entschieden wir uns, uns am neuen Ort in der Curtiusstraße 6 nur noch um die Augen zu kümmern." Und diese Entscheidung hat sich als richtig erwiesen. Erfolg stellt sich ein, wenn eingefahrene Wege verlassen werden. Für uns war von Anfang an klar, daß die Dienstleistung rund um die Brille, das Feststellen des Augenfehlers und das Erkennen, wann ggfs. der Augenarzt tätig werden muß, eine tragende Säule des Erfolgs ist. Wir waren stets und sind bei moderner Meßtechnik führend in Berlin. Für den Kunden ist das beschwerdefreie Sehen genauso wichtig wie das Aussehen. Für beides steht der Name "Schulze- Gunst". 60 Prozent unserer Kunden kommen von außerhalb Lichterfeldes, aus ganz Berlin, zu uns. Auch darauf sind wir stolz. Und seit unsere Tochter Leonie ihre Ausbildung abgeschlossen hat, trägt bei uns jetzt bereits die vierte Generation Verantwortung. Wir sind ein richtiger "Familienbetrieb", zumal auch unsere Mitarbeiter dazu zählen. Ein Betrieb mit viel Persönlichkeit.