Jahrbuch 1999 für Steglitz - Heimatverein für
den Bezirk Steglitz
Stasi-Entführung
in Lichterfelde
Die Walter-Linse-Straße in Lichterfelde ist eine kleine Wohnstraße,
die zur Drakestraße führt. Nur ihr Name erinnert an das schreckliche
Geschehen, das sich hier am Morgen des 8. Juli 1952 zutrug.
In der damaligen Gerichtstraße parkt vor der Hausnummer 12 ein als
Taxi hergerichteter Opel Kapitän. Der Jurist Dr. Walter Linse verläßt
seine Wohnung, um sich zur Arbeit als Abteilungsleiter Wirtschaft beim
Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen zu begeben. Ein in
der Nähe des Wagens stehender Mann bittet Linse um Feuer. Als der
stehenbleibt, schlägt der Mann mit drei Kumpanen den Juristen nieder.
Die Verbrecher versuchen, Linse in den Wagen zu zerren. Dieser wehrt sich
heftig, bis ihm die Gangster ins Bein schießen.
Passanten
versuchen, den Wagen aufzuhalten - vergeblich. Mit hoher Geschwindigkeit
rast das dunkle Auto über Königsberger Straße, Giesensdorfer
Straße, Berliner Straße (heute Ostpreußendamm) zum Grenzübergang
Schwelmer Straße. Über Teltow führt die Route ins Stasigefängnis
Hohenschönhausen.
Das von der Ostberliner Regierung zu verantwortende Verbrechen wird schnell
bekannt. 25.000 Berliner versammeln sich empört vor dem Rathaus Schöneberg.
Walter Linse hilft diese Unterstützung nicht mehr. Anfang Dezember
1952 wird er den "Organen der sowjetischen Kontrollkommission"
übergeben. Nach endlosen Verhören erfolgt am 23. September 1953
das Todesurteil unter anderem wegen Spionage und konterrevolutionärer
Tätigkeit. Linse wird am 15. Dezember 1953 hingerichtet, sein Leichnam
im Krematorium am Donskoj - Kloster eingeäschert.
Auch
wenn die Sowjetunion jahrelang jede Kenntnis von der Person Walter Linses
abstritt - auch in westlichen Veröffentlichungen hieß es lange
Zeit, Linse sei in der UdSSR "verstorben" - war über die
Entführung einiges bekannt. Einer der Entführer beteiligte sich
im März 1953 an einem Einbruch in West-Berlin, wurde erwischt und
plauderte manches aus. Er wurde schließlich zu zehn Jahren Zuchthaus
verurteilt.
Auch war es kein Geheimnis, warum die DDR- Behörden ein so großes
Interesse an Linse hatten. Der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher
Juristen (UFJ) dokumentierte Menschenrechtsverletzungen in der DDR. Es
gehe ihm um den Bestand rechtsstaatlicher Ideale, hatte der am 23. August
1903 in Chemnitz geborene Linse in seinem Bewerbungsschreiben an den UFJ
geschrieben. Seine UFJ- Tätigkeit dürfte die DDR- Machthaber
gewaltig gestört haben, weil er als Wirtschaftsexperte Gewerbetreibende
in der DDR bei drohender Enteignung beriet.
Für
eine Ausstellung im Heimatmuseum trug Oskar Stück nicht nur Fotos
und Zeitungsausschnitte zusammen. Der Heimatforscher und ehemalige Lehrer
entdeckte auch in der Gauck-Behörde zahlreiche Akten zum Fall Linse.
So gibt es darin Berichte von Spitzeln, die zu Linse in die Zelle gelegt
wurden. Mit Wanzen dokumentierte die Stasi Selbstgespräche und Gebete
des Juristen. Die russische Justiz rehabilitierte Linse posthum am 8. Mai
1996.
Christian Schindler
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