Jahrbuch 1999 für Steglitz - Gustav Lilienthal
Die
Märchenwelt des Mittelalters und der Traum vom Fliegen. Zwei Seiten
im Leben des Architekten Gustav Lilienthal (1849 - 1933)
Burgen in Berlin? Wenn davon die Rede ist, so kann man- abgesehen von
der Zitadelle in Spandau - sicher sein, daß es nicht um mittelalterliche
Bauten geht. Was uns bei unseren Spaziergängen durch bestimmte Gegenden
Berlins gelegentlich überraschend begegnet und unwillkürlich
an das Mittelalter erinnern möchte, sind Architekturzeugnisse aus
dem neunzehnten Jahrhundert.
Wer zum Beispiel in Steglitz beim Autohaus Michael Hadad einen kleinen
Abstecher von der Birkbuschstraße in die dahintergelegene Barsekowstraße
nicht scheut, der steht auf einmal vor einer dieser geheimnisvollen Burgen
mit Erkern, Zinnen und neugotischen Spitzbogenfenstern, die mit roten Klinke
m eingefaßt sind. Die nordwestliche Seite des Hauses bildet ein angedeuteter
Burgturm mit quadratischem Grundriß, der sich vom Rest der Gebäudefront
durch leichtes Her- vorstehen und Überragen abhebt. Und auf Höhe
des zweiten Stockwerkes wird die Kante des Turmes von der Figur eines unbekannten
mittelalterlichen Königs geschmückt. Das Haus, einst als Wäscherei
gebaut, befindet sich in keinem guten Zustand. Doch der weitgehend abgefallene
Putz, der die rötlich- gelben Ziegel des Mauerwerks zum Vorschein
bringt, verstärkt nur den geheimnisvollen, altertümlichen Eindruck,
der unser Gemüt in ferne Jahrhunderte zurückversetzen will.
Das
Haus birgt tatsächlich ein Geheimnis, doch ist es ein Geheimnis aus
dem letzten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts. Sein Architekt Gustav
Lilienthal war der Bruder des berühmten Flugpioniers. 1849, ein Jahr
nach seinem Bruder Otto geboren, verkörperte er in seinem Schaffen
wie kaum jemand sonst die eigentümliche Verbindung zwischen technischindustriellem
Fortschrittsstreben und romantischem Rückbezug auf das Mittelalter,
die das aufstrebende deutsche Bürgertum vor dem ersten Weltkrieg auszeichnete.
Er war an den Forschungen seines Bruders zur Erfindung des Fliegens beteiligt
und entwickelte mit ihm zusammen den Steinbaukasten, bevor er nach längeren
Aufenthalten in Prag, London und Australien in Berlin als freier Architekt
tätig wurde. Der Fachwelt ist er als der Erbauer der "Burgen von Lichterfelde"
bekannt. Noch 22 dieser Landhäuser haben die Zerstörungen des
Krieges überlebt, unter anderem auch sein eigenes Haus im englischen
Tudorstil in der Marthastraße 5 in Lichterfelde- West.
Doch bei allen, der damaligen Zeit entsprechenden, historistischen Elementen
in der Fassadengestaltung galt das Hauptaugenmerk der Architektur Gustav
Lilienthals der größtmöglichen Funktionalität und
Wirtschaftlichkeit des Bauens. Diese wollte er durch optimale Nutzung von
Raum und Grundriß sowie verschiedene rationelle Bauverfahren und
-materialien erreichen. Denn die Zielgruppe für seine Wohnhäuser
bezeichnete er selbst als die "unteren Schichten des Mittelstandes", also
vor allem das intellektuelle Bildungsbürgertum.
Später
betätigte er sich auf seinem Gebiet gar als Sozialreformer, als Gründer
der "Freien Scholle", der ersten gemeinnützigen Baugenossenschaft
in Berlin.
Doch auch das Fliegen und seine Erforschung ließ ihn, wie seinen
Bruder, bis zu seinem Lebensende nicht los, und so setzte er in den zwanziger
Jahren dessen Experimente fort. 1933 starb Gustav Lilienthal im Alter von
83 Jahren auf dem Flugplatz Adlershof an Herzversagen - beim Bau eines
Flügelschlagapparates.
Das Haus in der Barsekowstraße 14-16, das wir bei unserem Spaziergang
in Steglitz entdeckten, wird heute durch ein Fitneßstudio und die
Werkstatt des Mitsubishi- Autohauses Michael Hadad genutzt.
Michael Karnetzki.
Anker-Steinbaukasten entwickelt von Gustav Lilienthal
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