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Jahrbuch 2001 für Steglitz -

Sonntags 15 Uhr im "Lichtburg"


Jedesmal wenn ich die Leonorenstraße in Richtung Rathaus Lankwitz hinunterfahre, schaue ich kurz vor der S-Bahn-Brücke nach links. Dort, neben einen flachen, grauen Bungalow ähnlichen Gebäude, stand bis 1971 das von Kindern so geliebte "Lichtburg", ein kleines Bezirkskino. Unten an der Straße befand sich ein großer Torbogen, auf dem die Leuchtreklame des Kinos zu lesen war. Rechts und links neben dem Tor sowie an den Innenseiten waren die Schaukästen mit den Aushangfotos angebracht. Über einen leicht ansteigenden, mit kleinen Steinen gepflasterten Weg, erreichte man das Kino. Rechts an der gemauerten Wand hingen gemalte Kinoplakate.

Unter dem Motto "Was spielt mein Kino heute?" wurden jeden Freitag neue Spielplakate an die Litfasssäule geklebt. Oft stand ich dicht hinter dem Plakatkleber, um gleich zu wissen, was es am Sonntag in der Jugendvorstellung um 15 Uhr im "Lichtburg" gab. Brachten sie einen Western, stand sofort fest, da geh ich hin. Weder im "Parklichtspiele" noch im "Albrechtshof wurden so viele Filme gezeigt wie im "Lichtburg". Ob es Westernfilme mit Audie Murphy oder Jeff Chandler waren, Ritterfilme mit Robert Taylor, Tarzanfilme mit Victor Mature, jeden Sonntag eine halbe Stunde vor Beginn stand ich mit meinen Freunden in der langen Schlange der wartenden Kinder und Halbstarken. Im "Lichtburg" nahm man es, und das fanden alle besonders gut, nämlich mit dem Alter nicht so genau. Ob der Film nun ab 12 oder 16 Jahren zugelassen war, wer es geschickt anstellte, kam in jede Jugendvorstellung. Um an mein Eintrittsgeld zu gelangen, holte ich dann Sonntagsvormittags, ohne zu murren, die Zigaretten für meinen Vater. Dann erzählte ich ihm, das im Kino ein lehrreicher Film gezeigt wird, der für den Geschichtsunterricht sehr gut ist. Den Filmtitel "Die Rache des Gehenkten", verschwieg ich natürlich. Mit den Worten "Wenn es kein Horrorfilm ist", gab er mir mein Kinogeld.

Auf dem Weg zum Kino blieben wir kurz auf der Siemensbrücke stehen, damit jeder einmal in den Teltowkanal spucken konnte. Schnellen Schrittes ging es die Leonorenstraße entlang, am Krankenhaus und an der Gärtnerei von Kotzhausen vorbei. Endlich sahen wir das Kino und auch die Massen der anderen Kinder, die zum "Lichtburg" strömten. Die letzten Meter rannten wir wie die Blöden, bis wir Seitenstiche bekamen. Schnell reihten wir uns in die Wartenden ein. Während meine Freunde mir einen Platz freihielten, schaute ich mir noch kurz die Aushangfotos in dem Kasten der Spätvorstellung an. Da hießen die Filme nicht "Dein ist mein Herz" oder "Wenn die Glocken hell erklingen", sondern reißerisch "Die Ratten von Soho" oder "Frauen in Erpresserhänden". Dazu Fotos von leichtbekleideten Schauspielerinnen. Ich wünschte mir dann immer, recht schnell erwachsen zu werden, um mir auch mal so einen Film ansehen zu dürfen.

     
    Ehemaliges Kurhaus, errichtet 1890 an der Leonorenstraße mit Gedenktafel an James Fraenkel,
    1859-1890, Mitbegründer der modernen Psychotherapie
    
Inzwischen war das Gedrängel und Gehschubse in der Reihe der Wartenden teilweise schon in Kloppereien ausgartet, und ich beeilte mich, schnellstens meinen Platz in der Schlange wieder einzunehmen. Jeder, der hier stand, wollte unbedingt ins Kino rein. Nicht selten kam es vor, dass die letzten in der Reihe nicht mehr hereinkamen, weil das Kino gerammelt voll war. Als das Geschiebe immer schlimmer wurde, öffnete sich endlich die Eingangstüren. Weil diese aber nach außen aufgingen, mussten diejenigen, die ganz vorne standen , zurückweichen. Dadurch kamen die dahinter Stehenden zuerst rein. Nachdem ich meine Kinokarte gekauft hatte, überlegte ich, ob ich mir erst was zu naschen kaufen sollte oder gleich zu meinen Platz gehen. Die Entscheidung nahm mir mein Freund Mäcki ab, der mich am Ärmel zerrend in den Innenraum zog. Drinnen rannte alle durcheinander, um den Besten Platz zu ergattern. Auf den knarrenden Holzdielen flitzten wir nach vorne auf unsere Plätze zu. Überall wurde um die besten Plätze gekämpft, wir saßen immer Reihe sechs außen am Gang, möglichst nahe am Notausgang. Mäcki war der Meinung, wenn mal ein Feuer ausbrechen sollte, sind wir am schnellsten draußen. Die Klappsitze waren aus Holz mit Sitzpolsterung. Es machte uns einen Heidenspaß, diese immer wieder hochklappen zu lassen, weil es immer so schön knallte. Manchmal musste ich auch auf dem hochgeklappten Sitz Platz nehmen, weil der vor mir sitzende ein Riese war. Da kam es dann schon mal vor, dass man von hinten eins auf die Nischel bekam. Es war immer wieder ein Rätsel, wie sich manche in die erste Reihe setzten konnten, diese hieß bei uns immer "Genickbrechreihe". Nach dem dritten Gong wurde es dann endlich dunkel. Sogleich zündeten sich die Halbstarken in den letzten Reihen ihre Glimmstängel an. Die Kippen traten sie achtlos auf dem Boden aus. Es kam mir immer wieder wie ein Wunder vor, dass der Holzboden nicht in Flammen aufging.

Zuerst gab es einen öden Naturfilm, der durch blöde Sprüche der Halbstarken das ganze Kino zum Brüllen brachte. Schon beim ersten Lichtstrahl des Filmvorführapparates konnte ich allerlei Zeug im hellen Schein nach vorne fliegen sehen. Zusammengeknüllte Zigarettenschachteln, zerkaute Kaugummis und die Holzstäbe von Langnese Eis. Nach dem Vorfilm wurde es für kurze Zeit wieder hell. Nun kam "FOX TÖNENDE WOCHENSCHAU" bei uns hieß es immer "Fox stöhnende Knochenschau". Jetzt war es schon ruhiger im Kino, denn die neuesten Nachrichten und Sportberichte wollte sich keiner entgehen lassen. Kurz bevor die Wochenschau zu Ende war sah ich schon vereinzelte Gestallten nach hinten schleichen, die sich am dicken Wollvorhang aufstellten. Das waren die ganz Voreiligen, die als erster am Süßwarenstand sein wollten. Als dann das Licht wieder anging, setzte erneuter Tumult ein; jeder rannte zum Eingang, um sich entweder "PICKEL-PIT" - Brausebonbons, Langnese Eiskrem "Split" oder etwas anderes zum lutschen zu holen. Die Pause dauerte genau zehn Minuten, wer bis dahin nicht wieder auf seinen Platz war, hatte das reinste Spielrutenlaufen vor sich. Denn im Halbdunkeln nach ihren Plätzen Suchenden wurden durch ausgestreckten Beine Fallen gestellt oder geduckt durch die Reihe huschend, Nackenschläge verpasst.

Nach dem zweiten Gong brannten nur noch die roten Lampen, die den schweren Samtvorhang auf der Bühne anstrahlten. Jetzt kam der Auftritt von "Onkel Lichtburg", so nannten liebevoll alle Kinder den Besitzer des Kinos. Er stand in der Mitte der Bühne mit einer Taschenlampe, deren Strahl nach oben gerichtet war. Ruhig verfolgte er das Tohuwabohu auf den Sitzreihen einige Minuten, dann ließ er die Taschenlampe nach unten kippen, so dass der Strahl auf den Boden zeigte. Schlagartig war es mucksmäuschen still im Kino. Dann sprach er: "Wenn ihr heute schön vernünftig seid, gibt es einen Trickfilm von Walt Disney". Kaum hatte er es ausgesprochen, brach erneut lautes Getöse aus. "Wenn nicht", erklang seine Stimme lauter "gibt es keinen". Totenstille! Vereinzelte Krakeeler versuchten laut zu werden. Doch die drohenden Gesten der Halbstarken ließen diese schnell verstummen. Einen Trickfilm vielleicht noch mit Mickey Maus, den wollten sich auch die Halbstarken nicht entgehen lasen. Während mein Freund Klaus das ganze Kino mit seiner einmaligen Lache zum Wahnsinn trieb, musste so manch einer mal schnell zur Toilette. Diese befanden sich aber nun vorn neben der Bühne. Links für Mädchen, rechts für Jungen, und weil die Schwingtüren aus Holz nur nach innen aufgingen, und weil jeder so wenig wie möglich vom Film verpassen wollte, knallten die Türen immer mit lautem Krachen gegen die Außenwände. Zu allem übel noch erhellte der Moment, wo die Tür aufging, den dunklen Kinoraum. Rufe wie "kannste nicht zu Hause pinkeln?" oder "Bind dir doch né Windel um"! gehörten noch zu den harmlosesten Rufen. Zwischendurch erfüllten "Aua"- Schreie sowie knallende Geräusche das Kino. Einige der Halbstarken machte sich den Spaß, angelutschte Malzbonbons von den hinteren Reihen aus, wo sie mit ihren Mädels saßen, nach vorne zu werfen. Wenn es klatschte, hatte er den Nacken eines Kinobesuchers erwischt. Wenn es aber knallte, dann war der Holzrücken des Sitzes getroffen. Ja, so was gab es nur in unserm "Lichtburg". Manchmal gab es anstelle des Trickfilms eine Episode aus der Unfallverhütungsreihe mit dem Totengräber "Denn bei mir liegen sie richtig", dieser Spruch wurde dann von allen im Kino, wie aus einem Munde nachgesprochen.

Kurz vor dem Hauptfilm wurden noch Ausschnitte aus dem Film der nächsten Woche gezeigt. Bevor diese vorbei waren, stand für mich fest, den seh´ ich mir auch wieder an. Mein Freund Batti fragte mich dann immer, "wo willste det Geld herkriejen?" "Na, denn klau ick wieder Flida und verkoof den an Fr. Böttcher, einer lieben alten Dame aus der Nachbarschaft.

Und dann begann der Hauptfilm. Ich vergaß alles um mich herum. Wenn der Revolvermann zu seinem Colt griff, fasste auch ich an meine rechte Seite, und wenn der arme Indianer erschossen wurde, dann liefen mir die Tränen runter. Immer, wenn es ganz besonders spannend wurde, rutschten alle auf ihren sitzen hin und her, manche hielt es gar nicht mehr im Stuhl und sie sprangen auf. Kam dann der Held, ertönte aus allen Kehlen: "Der Gute kommt, der Gute kommt"! Wenn der Film dann aus war und das Licht wieder anging, kam es mir immer vor, als wenn ich aus meinen Träumen gerissen wurde. Aber dann stürmte ich doch mit den anderen nach draußen, wo mich das grelle Tageslicht blendete und der Wind meine Tränen trocknete. Ein paar Minuten später beteiligte ich mich schon wieder an den mit Händen und Füßen wiedergegebenen Filmszenen mit den Freunden.

Einige Jahre später habe ich mir dann, zusammen mit meiner Freundin, doch einmal eine Spätvorstellung angesehen. Doch durch die Ablenkungsmanöver des Mädchens habe ich von dem Film nicht sehr viel mitbekommen. Zu meinem tiefsten Bedauern besitze ich kein Foto vom "LICHTBURG", dessen Besitzer vor einigen Jahren starb. Seine Frau hat alle Fotos weggeworfen. Sie erzählte mir jedoch, dass das "LICHTBURG" die Lebensaufgabe ihres Mannes gewesen war. Er hat alle Kinder in seinem Kino gern gehabt.


Michael Lorenz