Jahrbuch 2001 für Steglitz -
Das Deutsche Werkhaus - Kunstgewerbe Charlotte Saß
Die Geschichte eines Steglitzer Einzelhandelsgeschäftes (1924 bis 1969)
Manche
der älteren Steglitzer werden sich vielleicht an unser hübsches
Kunstgewerbelädchen mit den vielen Geschenk- und Geräuschsartikeln erinnern.
Es war ganz in der nähe des S-Bahnhofes gelegen, wenn man zum Rathaus ging
auf der rechten Seite zwischen Heeserstraße und Robert-Lück-Straße. Meine
Mutter, Charlotte Saß, wurde am 21.10.1898 in Berlin geboren. Sie stammte aus
einer kinderreichen Arbeiterfamilie und besuchte nach der Grundschulzeit die
gewerbliche und kaufmännische Pflichtfortbildungsschule zu Berlin, wurde dort
zur Kontoristin ausgebildet. Bei der Firma Berstein (Lampenschirme) machte sie
eine kaufmännische Lehre. Später kam sie zur Firma Erich Grätz, arbeitete
dort in der Lohnbuchhaltung. 1921 lehrte sie ihren ersten Mann Kurt Reinicke,
kennen (Jahrgang 1888), Kaufmann von Beruf. Er versuchte sich in der
Inflationszeit mit dem Vertrieb von Kleinmöbeln über Wasser zu halten. Nach
der Stabilisierung der Währung gründete er 1924 das "Deutsche
Werkhaus". Er wollte die Deutsche Heimkultur und das alte traditionelle
Kunsthandwerk fördern, nannte das "sinngemäßes Kunstgewerbe". Er
baute ein stattliches Lager auch für Wiederverkäufer auf. Keramik und
Handgewerbe arbeiten, sogar Bücher und Bilder gehörten schon zum
Warenbestand. Das Geschäft befand sich in Berlin Schöneberg, in der
Golzstraße 36.
Im Herbst 1925 stieß der
neunzehnjährige Ernst Saß nach seiner Kaufmannslehre zu dem Ehepaar Reinicke
und machte sich im Geschäft als Dekorateur und Verkäufer nützlich. In dem
älteren Kurt Reinicke fand er bald einen beispielgebenden Freund, dessen
freie und revolutionäre Anschauungen er rasch zu eigen machte. "Du musst
Deine ganze Persönlichkeit in die Waagschale werfen, wenn Du im Leben etwas
erreichen willst. Die Lauen und Halben werden niemals das Höchste im Leben
erringen." Unter diesem Leitwort begann mein Vater, seinen weiteren
Berufsweg einzuschlagen.
Im August 1929 starb unerwartet schnell Kurt Reinicke im Alter von 41 Jahren.
Mein Vater fühlte sich dem Freund und seinem Werk so verpflichtet, dass er
der jungen Witwe Reinicke helfen wollte, das "Deutsche Werkhaus" am
Leben zu erhalten. In einem Werbezettel schrieb er damals:" Wir
versuchen, den fleißigen, in der Volkskunst tätigen Händen neue Aufträge
zu geben durch die Förderung des Absatzes ihrer Erzeugnisse. In jedes Haus
möchten wir etwas von diesen Schätzen tragen".
Mit dem Einsatz für das Werk seines Freundes wuchs 1930 eine tiefe Zuneigung
zu der jungen, attraktiven Witwe, und eine neue Familiengeschichte begann. Aus
der Charlotte Reinicke wurde 1932 die Charlotte Saß, und ich wurde als erster
Sohn im gleichen Jahr geboren. 1935 siedelte das
"Deutsche Werkhaus" nach Steglitz um. In der Albrechtstaße 124
lagen nun endlich Geschäft und Wohnung im gleichen Hause beieinander. Im
September 1935 wurde mein Bruder Hartmut geboren, der die Wohnung noch heute
im zweiten Stock bewohnt.
Kurz nach meiner Geburt begann mein Vater ein vierjähriges Studium des
Volkswirtschaft an der Friedrich-Wilhelm Universität in Berlin. Nur mit äußerster
Anstrengung konnten meine Eltern in diesen Jahren das "Werkhaus" am
Leben erhalten. "Wir waren ständig am Ende unserer Kräfte",
schrieb mein Vater. Erst 1937 kam ein Aufatmen mit dem Beruf des
Diplom-Volkswirts. Der wirtschaftliche Aufschwung machte es möglich, nun
regelmäßig auf der Leipziger Messe einzukaufen. Meine Mutter führte nun
weitgehend selbstständig das Geschäft, mein Vater half ihr dabei neben
seiner Tätigkeit im Reichskuratorium für Wirtschaftlichkeit. Bis zu seiner
Einberufung als Reserveoffiziersbewerber 1943 schrieb er noch eine
umfangreiche Dissertation über "Volkswirtschaftliche
Rationalisierung". In den Kämpfen um den Monte Castellone (Italien)
verlor er Anfang 1944 sein Leben. Meine Mutter pendelte zwischen Berlin und
Templin (Uckermark) hin und her, wohin wir 1943 "evakuiert" wurden.
In den letzten Kriegsmonaten war das "Werkhaus" kaum noch zu
führen. Jeder bangte nur noch um sein Leben. Im August 1945 kehrten wir nach
Steglitz zurück und fanden Wohnung und Laden verrüstet vor. Das Schaufenster
war zugenagelt, ein Zimmerfenster eingesetzt. Mit großer Energie gingen wir
an den Wiederaufbau. Das "Deutsche Werkhaus" wurde nun zu einem
Überlebenstraining. Mit ganz bescheidenen Dingen, die zu Haus gebastelt
wurden, fing das Geschäft wieder an. Wir verkauften Stoffpilze aus Holz,
kleine selbstgemalte Bildchen, genähte Stoffdeckchen, bemahlte Gläser,
tröstende Sprüche, wie "Immer wenn Du denkst es geht nicht mehr, kommt
von irgendwo ein Lichtlein her". Erste Tonwaren kamen dazu. Buddha- und
Tierplastiken. Auf der Flucht aus Danzik quatierte sich der frühere Schwager
meiner Mutter bei uns ein und half im Geschäft. Wir Söhne mussten neben der
Schule kräftig mithelfen. Zum Pensum gehörten heizen, bohnern, Staub
wischen, Kisten auspacken, dekorieren, gekaufte Ware einpacken, liefern gehen,
im Verkauf tätig sein. Mit dem allmählich wachsenden
Wohlstand begann eine wirklich glückliche Phase des "Werkhauses".
Der Bedarf an schönem Kunstgewerbe war groß. Meine Mutter kaufte ganz nach
ihrem Geschmack auf der Frankfurter Messe ein und verstand es in all den
erfolgreichen Jahren - ganz im ursprünglich geplanten Sinne - den Zauber
deutscher Heimat und Landschaft in jedes Heim zu bringen. Ich weiß noch, wie
uns zu Weihnachten die kleinen Engel aus dem Erzgebirge geradezu aus der Hand
gerissen wurden. Meine Mutter verstand es, eine kaum noch zu übersehende
Auswahl an schönen Dingen anzubieten, und so gewann sie sich in Steglitz und
Umgebung eine zahlreiche Stammkundschaft. Zu Weihnachten und Ostern war immer
der größte Ansturm von Kunden.
Albrechtstraße Ecke Berlinckestraße
Albrechtsraße Ecke Heesestraße - rechts und Schützenstraße
von links - in den Dreißiger Jahren
Meine Mutter bildete auch Verkäuferrinnen aus. Trotzdem blieb
die Arbeit schwer. "Man muss ganz schön ackern", sagte sie oft. Mein
Bruder stand ihr ab 1953 treu zur Seite, als ich das Haus verließ. Große Reichtümer
hat das kleine Geschäft nie abgeworfen. Es war eher eine anstrengende
Liebhaberei, die allerdings zu einer Existenzgrundlage einer Familie wurde.
1964 wurde das 40-jährige Bestehen des "Deutschen Werkhauses"
gefeiert. Es gab viele Glückwünsche und Blumen. Aber die Zeit solcher kleinen,
individuellen Einzelhandelsgeschäfte war schon fast vorbei.
1965 begann meine Mutter bereits, Abschied zu nehmen. "Ich werde wohl mit
Sehnsucht und Wehmut an all die schönen Jahre zurückdenken. Auf der anderen
Seite freue ich mich, nun auch endlich mal privat Leben zu können." Am
30.12.1968 verschickte sie Abschiedsbriefe an ihre alten, treuen Kunden. Die
Reaktion war überwältigend. Alle fingen an zu trauern. "35 Jahre am Ort,
da ist man doch bekannt wie ein bunter Pudel."
Am 31.3.1969 war dann der letzte Verkaufstag des
"Deutschen Warenhauses". Damit war die 45 jährige Geschichte des
kleinen Geschäftes zu Ende. Eine Filiale japanischer Foto-Discount-Läden
übernahm kurzzeitig den Laden. Danach zogen zwei Kleidergeschäfte hinein und
seit 1995 ist der Taschenmesserreider und Messerschmiedemeister Peter Vogel in
unseren alten Räumen. Er schimpft nicht auf die Warenhäuser, er meint, der
Mensch sei schuld, der in die Warenhäuser renne.
Glückliche und zufriedene Ruhestandsjahre erlebte meine Mutter noch bis 1980.
Dann wurde ihr das Gehirn immer beschwerlicher und schmerzhafter. Sie war ganz
an die Steglitzer Wohnung gefesselt, wo ihr mein Bruder unentbehrliche Stütze
wurde. In einem schön gelegenen Pflegeheim in Goslar verbrachte sie ihre
letzten drei Lebensjahre mit bewundernswerter Gefasstheit nach einer
Querschnittslähmung. Mein Bruder und ich besuchten sie, so oft es ging und
fuhren sie im Rollstuhl in die schöne Umgebung. Sie starb am 18.12.1988 kurz
nach ihrem 90. Geburtstag, den sie in völliger geistiger Klarheit noch mit uns
feierte.
Dankbar nahmen wir Abschied von unserer Mutter, die uns in vielem ein großes
Vorbild war. Sie liebte und bewunderte das Leben in seiner ganzen
Rätselhaftigkeit und lebte so konform mit dem alten deutschen Spruch:
Ich komm, weiß nicht woher,
ich bin und weiß nicht wer,
ich leb, weiß nicht wie lang,
ich sterb und weiß nicht wann,
ich fahr, weiß nicht wohin -
mich wundert´s , dass ich fröhlich bin.
Die Urnengrabstelle meiner Mutter haben wir im Baden-Badener
Rebland in unserem Wohnort Varnhalt eingerichtet, wo ich mit meiner Familie seit
1968 in einem eigenen Haus lebe.
Eckkehard Saß
Bild 1: Meine Mutter zum 40-jährigen Jubiläum vor ihrem
Geschäft, 1964 |