Zurück zum Inhaltsverzeichnis


Jahrbuch 2001 für Steglitz -

Die Rodelbahn


Zu Weihnachten hatte ich einen neuen Schlitten bekommen. Der alte hatte den letzten Winter nicht mehr überlebt, nachdem ich einen Baum nicht mehr ausweichen konnte. Jeden Tag wartete ich darauf, dass es schneien würde. Am 12.Januar 1959 war es endlich soweit. Die Schneeflocken fielen so dicht, dass ich die andere Straßenseite nicht mehr erkennen konnte. Schon am frühen Morgen schob der Hauswart fluchend mit seinem schweren Schneeschieber aus Holz den Bürgersteig am Munsterdamm entlang. Am Straßenrand türmte sich der Schnee fast einen Meter hoch.
Auf dem Weg von der Schule nach Hause verabredete ich mit meinen Freund Mäcki gleich nach den Schularbeiten, auf den Insulaner rodeln zu gehen. Die Prozedur des Anziehens war jedes Jahr dieselbe.

Zuerst die lange, graue Wollunterhose von meinem Vater, die mir viel zu groß war. Dazu ein langärmeliges Unterhemd mit Knöpfen. Über die Füße zwei Paar Wollsocken, die schon etliche Male gestopft waren. Der braunen Trainingshose mit den Flicken an den Knien folgte das Flanellhemd, an dem schon seit Wochen der oberste Knopf fehlte. Nun kamen die ungefütterten Lederstiefel dran, die mir fast zu klein waren. Zuletzt der Anorak und, damit auch der Kopf warm bleibt, die ungeliebte Schirmmütze mit den Ohrenklappen, mit der mich die anderen immer veräppelten. An den kratzenden Schal hatte ich mich schon im laufe der Jahre gewöhnt. Das ich mich letztendlich überhaupt noch bewegen konnte, grenzte immer wieder an ein Wunder. Mit meinem neuen Schlitten auf dem Rücken, lief ich hinüber zu meinem Freund, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnte. Vor Mäckis Haustür angekommen, pfiff ich kurz, und gleich darauf trat er ebenso vermummt wie ich mit seinem Schlitten aus der Haustür. Am Kottesteig trafen wir auf die anderen Freunde, und gemeinsam machten wir uns auf den Weg zum Insulaner. Unterwegs amüsierten wir uns köstlich über die verschiedenen Arten von Schlitten, die manche Leute hinter sich herzogen .Da waren schon komische Geräte dabei. Einer hatte eine "Eisenente", ein Rohrgestell mit einer blauen Holzsitzfläche, die einer acht ähnelte. Andere besaßen noch die spitz zulaufenden Schlitten mit den scharfkantigen Kufen, wo man sich immer an den hinteren Holzleisten stieß. Meine Freunde und ich hatten Schlitten der Marke "DAVOS" mit abgerundeten Kufenenden. Diese Schlitten waren stabil und konnten so manchen Sturz standhalten.

Als wir das neue Sommerbad am Insulaner erreichten, konnte ich schon die johlende Geräuschkulisse von der Rodelbahn hören, ohne sie zu sehen. Links am Weg, der auf den Insulaner führte, stand eine kleine Tannenschonung, in die wir erst mal reinliefen. Dort zogen wir in den unberührten Schnee unsere Spuren. 
Der Weg nach oben war noch nicht gestreut worden, und als wir gerade beschlossen hatten, später dort runter zu rodeln, kam der Parkwächter aus seiner Hütte und schmiss haufenweise schwarzen Sand auf den Weg. Als er unsere enttäuschten Blicke sah, grinste er schadenfroh. Je näher wir der Rodelbahn kamen, um so lauter wurde das Gebrüll und Gekreische der Rodler aller Altersklassen. Oben angekommen, sahen wir, dass der Teufel los war. Dicht gedrängt, auf Schlitten sitzend oder wild durcheinander laufend, wuselten alle hin und her. Wir stellten uns hinten in die Reihe der Wartenden an. Mäcki bemerkte, dass vorne am Start alles vereist war und das ein paar Halbstarke die ängstlichen Rodler mit Tritten gegen deren Schlitten diese zum Schleudern brachten .Kurz bevor wir an der Reihe waren, schob ein Junge den verrücktesten "Schlitten", den ich jemals gesehen hatte, an den Start. Unter einer Sperrholzplatte waren an den Enden Schlittschuhe festgeschraubt. 

Die beiden vorderen konnten bewegt werden und wurden mit einer Schnur gelenkt. Die Blicke aller Leute waren nun auf das Gefährt gerichtet, das mit donnerndem Getöse den Hang hinunter polterte. Wir rodelten fast immer mit Bauchklatscher, und mit dem Ruf "Bahn frei" schmiss sich jeder auf seinen Schlitten. Während Mäcki hervorragend vom Start wegkam, rutschte ich erst mal auf dem Eis aus und flog auf die Fresse. Die herumstehenden Halbstarken gröhlten vor lachen. Als ich endlich auf der Bahn war, konnte ich fast nichts mehr sehen, weil vor mir ein Vater mit Mantel, Hut und Kleinkind auf dem Schoß, bei seinem Lenk- und Bremsmanövern dermaßen viel Schnee aufwirbelte. Aus diesem Grund reagierte ich bei dem gefährlichen Höcker im unteren Teil der Rodelbahn auch viel zu spät. Auf einmal riss es mir fast den Schlitten aus den Händen und ich flog durch die Luft. Sekunden später knallte ich zurück auf den knochenharten Boden. Mein erster Gedanke galt dem Schlitten, hoffentlich war er ganz geblieben. Unten angekommen, beglückwünschte mich mein Freund zu meiner Glanzleistung. "Ich dachte schon, du hast dir alle Knochen gebrochen bei dem Abflug". Dann begann der lange Weg zurück nach oben. Die meisten liefen am rechten  Rand der Rodelbahn. Oft passierte es, dass so ein Anfänger seinen Schlitten nicht unter Kontrolle brachte und mitten in die laufende Menge bretterte. Als nächstes probierten wir einen Vierer. Jeder legte sich auf seinen Schlitten und hielt sich mit den Händen am Vordermann fest. Wiederum machte uns der Bodenhöcker einen Strich durch die Rechnung. Dieses mal jedoch ging ein Schlitten zu Bruch. Drei Freunde manövrierten ihre Schlitten wieder in die Bahn zurück, während Jürgen mit seinem über die Böschung rauschte und in den Büschen hängen blieb. In den Rodelpausen beobachtete ich die langen Güterzüge, die auf den Gleisen am Bahnhof Priesterweg rangierten. Auch die Flugzeuge im Anflug auf den Flughafen Tempelhof, dröhnten mit lautem Motorenbrummen über unsere Köpfe hinweg. Die Halbstarken hatten ihren Spaß daran, Mädchen zu kapern. Sie lauerten mit ihren Schlitten unterhalb des Starts. Wenn sich dann ein Mädchen, meist saßen zwei auf einen Schlitten, kreischend in Bewegung setzten und an den wartenden vorbeikamen, rannten diese mit großem Anlauf hinterher, warfen sich auf ihre Schlitten und versuchten sich hinten bei den Mädchen anzuhängen. Dann versuchten sie diese umzuwerfen, was auch meistens klappte. Als ich das auch mal machen wollte, bekam ich mit voller Wucht einen nassen Handschuh ins Gesicht geknallt, das mir Hören und Sehen verging.

Der Nachmittag ging zu Ende und an den Hosenbeinen hingen schon Eiszapfen. Meine Zehen spürte ich kaum noch und meine Hände waren blau vor Kälte. Obwohl der Weg nach unten gestreut war, rodelten wir ihn hinunter. Zu Hause angekommen, klemmte ich meine Füße erst einmal zwischen die Rippen des Heizkörpers. Am Anfang zwickte es noch ungemein, doch dann kroch eine wohltuende Wärme meine Beine empor.

Wenn ich heutzutage an einem verschneiten Tag oben an der Rodelbahn stehe und die wenigen Kinder sehe, die dort noch rodeln, dann schließe ich meine Augen und in Gedanken höre ich noch einmal das Gejohle von einst, als wenn es gestern gewesen wäre.

Michael Lorenz