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Jahrbuch 2001 für Steglitz -

Die Hedwigstraße in Friedenau

Im Sommer 1946 kam ich als Tempelholferin nach Friedenau. Ich hatte mich in einen jungen Geschäftsmann verliebt, wir wollten heiraten. Ich hatte nicht viel vorzuweisen, war 20 Jahre alt, war in einem geordneten Beamtenhaushalt aufgewachsen und hatte das Abitur gemacht. Hinzu kamen Zeiten im Arbeitsdienst, bei der Flakscheinwerferei und im Gefangenenlager. Nach Kriegsende war ich der besseren Lebensmittelkarten wegen bei einem Dachdecker als Bauhilfearbeiter mit einem Stundenlohn von 0,64 Reichsmark auf Tempelhorfer Dächern herumgekrabbelt und hatte beim Erstellen von Notdächern geholfen.

Die Hedwigstraße wurde meine neue Heimat. Es ist eine kleine Straße mit nur 19 Hausnummern, die von der Rhein- Ecke Ringstraße- heute Dickhardstraße- bis zur Sponholzstraße reicht. Die mehrstöckigen stuckverzierten Häuser stammen aus der Zeit der Jahrhundertwende. Einige hübsche Stadtvillen sind bis heute erhalten geblieben. Die Straße erschien mir still und verträumt. In der Nachkriegszeit waren viele Fußgänger unterwegs. Autos gab es kaum. Vor jedem Grundstück präsentierte sich ein mehr oder weniger hübscher Vorgarten. Einige hatten sogar ihre geschmiedeten Umzäunungen behalten, von den meisten jedoch war im Krieg das Metall der Waffenschmiede zugeführt worden. Die Straßen- beleuchtungen hingen an Freileitungen über der Fahrbahnmitte.

Die Linden gab es schon damals. Allerdings wurde ihre Anzahl in dem bitterkalten Winter 1946/47 erheblich reduziert. Man brauchte Brennstoff für das Auguste-Viktoria-Krankenhaus in der Rubensstraße. Von den Häusern Hedwigstraße 3, 3a und sieben waren nur ausgebombte Ruinen stehengeblieben. Eine Luftmine, die jenseits der Rheinstraße das Haus Lauterstraße Ecke Schmargendorfer Straße zerstört hatte, beschädigte durch die große Druckwelle auch viele der schönen alten Häuser in der Hedwigstraße. Fassaden, Wände und Decken waren anschließend großflächig vom Putz befreit. Fenster und Schaufensterscheiben waren durch Holz und Pappe und manchmal auch schon wieder durch Glas ersetzt.

Mein neues Domizil in der Nummer 1a hatte sich damals als ein sehr stabiler Prachtbau erwiesen. Der hatte Putz der Straßenfassade steht bis heute fast ohne Überarbeitung. Hauseingang und die Einfahrt des hochherrschaftlichen Hauses sind mit Marmor und Stuck ausgekleidet und haben eine hübsche Stuckkassettendecke. Der Vorderhausaufgang "Nur für Herrschaften" zeigt Parkett. Vater Stenzel überwachte von seiner Portierloge aus die möglichen Besucher der drei Vorderhauswohnungen. Jede davon hat bis heute mehr als 250 Quadratmeter Wohnfläche. Eine langer Seitenflügel hat vier Wohnungen von jeweils mehr als 100 Quadratmeter Fläche. Diese sind nur vom Hof aus über einen weitaus primitiveren Aufgang "Für Dienstboten" zu erreichen. Ganz hinten auf dem Grundstück gab es noch die Remisen für Kutschwagen, den Pferdestall mit Futterkammer sowie eine Stube für den Kutscher. Der kleine Anbau trug einen begrünten Dachgarten in Höhe der ersten Etage.

Die Räume darunter wurden später als Garagen genutzt. Unsere große Gartenhauswohnung kostet monatlich 100 Reichsmark Miete. Sie war vor unserem Einzug der Kriegsschäden wegen recht überholungsbedürftig. Maure, Tischler, Elektriker, Klempner und Maler wurden tätig. Mein Mann hatte da als Handwerker beste Beziehungen, die mich nur staunen ließen. Allein der Malermeister hatte mit einem Helfer volle vier Wochen zu tun. Seine Rechnung habe ich noch. Sie belief sich mit allem Material für Decken, Wände, Tapeten, Fenster, Türen, Heizkörper und alle Dielenfußböden auf 1.024.-Reichsmark. Die Kokszentralheizung kam erst im Winter 1950/51 wieder stockend in Betrieb. Bis dahin hatte man bescheiden mit Kanonenöfen geheizt, deren Ofenrohre abenteuerlich durch mehrere Räume bis zum nächsten Lüftungsschornstein geführt waren- sicherlich ohne Wissen des zuständigen Schornsteinfegermeisters. Es gab auch Ofenrohrkniestücke, die den Rauch einfach zu Fenster ´rausbliesen.

Ich erinnere mich an benachbarte Geschäftleute. Es gab viele kleine Läden für alle Bedürfnisse: Eine Milchladen in Nummer 12, Frau Knispel verkaufte Gemüse in Nummer 4, Sie war sehr gutmütig, bei ihr konnte man "anschreiben" lassen. Bäcker Mayer hatte Backstube und Laden an der Ecke Sponholzstraße. Der Fleischermeister Dudkiewicz betrieb mit seiner Schwester ein Fachgeschäft im eigenen Hause Fregestraße 74, Ecke Hedwigstraße 4. Ein größerer Lebensmittelladen gehört Herrn Breko an der Ecke Wielandstraße 31. Frau Seidel, später Herr Knuthe mit Frau bedienten Lebensmittel in Nummer 2. Herr Unruh handelte mit Fisch im Eckhaus zur Fregestraße 5. Keiner dieser Tante-Emma-Läden hat überlebt.

Frau Bogenhardt hatte eine kleine Wäscherei in Nummer 1. Sie stellte ihre Gardinenspannrahmen zum Trocken der Baumwollgardinen in den Vorgarten. Es gab den Elektriker in Nummer 1a, der 1935 von gegenüber aus Nummer 19 übergesiedet war und später nach Nummer 2 umzog, wo er bis heute ansässig ist. Daneben war der Kürschnermeister Alfred Nixdorf, dessen Geschäft später von Horst Zeidler übernommen wurde. Farben und Tapeten gab es in dem großen Doppelladen bei Zakzewski in Nummer 2, daneben den Friseur Bukowski. Blumen hatte Frau Peter in Nummer 5. Unter neuer Leitung gibt es sie noch heute.

An der Ecke Rhein- Dickhardtstraße gab es einen kleinen Laden, der durch die erwähnte Luftmine stark beschädigt war. Herr Bielicki werkelte an dem maroden Gemäuer, um dann ein kleines Geschäft für Wollkleidung zu eröffnen. Sein Sohn führt den Laden noch heute. Die Lichtpauserei Girtzig war in Nummer 5 ansässig. Sie wurde durch die Konkurrenz der modernen Kopiertechnik niedergemacht. In Nummer 14 war das Fahrradgeschäft des Herrn Lebrecht. Daneben handelte Fräulein Brandmüller in ihrem Papierwarenladen mit Büroartikeln. Der Frisör in Nummer 12a ist bis heute als Familienbetrieb alteingesessen. Auch des Reformhaus in Nummer 10 gab es schon damals. An der Ecke Wielandstraße 14a war seit 1885 ein Woll- und Kurzwarengeschäft. Heute fertigt dort die Firma Burger als Familienbetrieb Etuis und Schatullen.

In Nummer 16 arbeitete Schumachermeister Leonhardt. In demselben Haus war auch der Eisenwarenladen von Frau Mieles, der später von Herrn Karsten übernommen wurde. An den Büromaschinenbetrieb Breitkreutz erinnere ich mich: Zu Anfang war er im Laden Nummer 17. Nummer 18 war ungebaut. Hinten auf dem leeren Grundstück stand das Häuschen mit der Wäscherolle, die zur Drogerie Körner in Nummer 19 gehörte. An der Ecke zur Rheinstraße residierte daneben der Lederwarenladen o.s., Otto Schwarz.

Viele dieser ganz alten Geschäfte wurden nach Kriegsende von den beherzten Ehefrauen wieder aufgemacht, deren Männer entweder gefallen, verwisst oder erst sehr spät aus der Gefangenschaft entlassen worden waren. Gleich nach Kriegsende stand eine Zeitungsbude auf dem Ruinengrundstück Nummer 3a. Der spätere Laden des Herrn Miletzki in Nummer 2 wurde Treffpunkt für alle Neuigkeiten im Kiez.

Auch die Kneipen haben Tradition: Fräulein Böhme und ihre Mutter überstanden die Nachkriegsjahre in Nummer 5. In der Wielandsstraße 32 befand sich eine Eckkneipe, die den häufigen pächterwechsel nicht überstanden hat. Besonders erwähnenswert ist aber Kurtchen Hochstadt in Nummer 1, der mit seinem Klein-Paris bekannte Künstler, Musiker, Politiker und Wirtschaftsbosse als Stammgäste in unsere Straße holte. Sicher habe ich viele vergessen, die in diese Aufstellung von 1946 gehört hätten.

Über die Jahre hat sich viel verändert. Neue Leute kamen, waren fleißig und gingen irgendwann wieder. So beispielweise die Firma Möbel Schulz, die in Nummer 5 lange Jahre erfolgreich tätig war. Es gab eine zeitlang eine Apotheke in Nummer 4, einen Freibankschlachter in Nummer 11, den Elektriker Wunderlich in Nummer 10, einen Orthopädiemeister in Nummer 16, ein Kinderbekleidungsgeschäft in Nummer 1a, auf den folgte eine Filiale von Kartoffel-Krohn und darauf wiederum ein Laden mit türkischen Lebensmitteln. Ich erinnere mich an eine Dampfwäscherei in Nummer 7a, daneben war noch ein Frisörgeschäft.

Heute sind dort keine Läden mehr- es wurde umgebaut. Ein Nagelstudio und einen Laufmaschenladen fand man in Nummer 5. Die Firma Ofen-Kuscher war aus der Dickhardtstraße an die Ecke Fregestraße 74a gezogen. Nach vielen Jahren folgte dort ein Lebensmittelgeschäft. Thomas und Hanold mit Wirtschaftsartikeln war neben einer Filiale von Farben-Heymann vorn im Eckhaus zur Dickhardtstraße 61/62. Auch das Baunebengewerbe der Firma Reichelt soll hier erwähnt werden, das irgendwann von der Ecke Wiellandstraße 31 verschwand.

Wir bekamen wieder neue Leute hierher: so einen Raumausstatter, ein Bestattungsunternehmen, ein Geschäft mit Silberantiquitäten, eine Versicherungsagentur, einen Fußpflegesalon, den Filialbetrieb der Bäckerei Gohs, einen Kinderladen in Nummer 12, den Nachfolger für Klein-Paris und den Bilderbär. Schon seit mehr als 25 Jahren hat sich Uhrmachermeister Vogt in Nummer 1 durch gesetzt. Die Firma Knorr übernahm das Haus Nummer 17 und brachte seine gewaltig gewachsene Schlossfirma in allen vier Läden des Hauses unter.

Die große Villa Hedwigstraße 13 hatte ehemals der Kaufhausfamilie Hermann Tietz gehört. Er hatte das ganze Areal um die Haupt und die Fregestraße aufgekauft. Dort wollte er sein ein neues Kaufhaus errichten. Zwei Stockwerke in der Erde hinein waren auf dem Gelände des heutigen Laubengangkomplexes bereits ausgeschachtet, als man sein Vorhaben wegen seiner jüdischen Herkunft stoppte. Die Baustelle wurde eingezäunt und später zugeschüttet, nachdem dort spielende Kinder ernsthaft verunglückt waren. Die Villa Hedwigstraße 13 wurde über Umwege von der Deutschen Postgewerkschaft übernommen. 1972 startet dort ein Elternverein im Modellversuch eine Kindertagesstätte zur gemeinsamen Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder. Zu dieser Integrationseinrichtung gehören 5 Schülerläden und ein Jugendfreizeitheim in der Schöneberger Ebersstraße.

So wie die Einzelhandelsunternehmen einem steigen Wandel unterlagen, hat sich auch die Hedwigstraße selbst verändert. Nach 1955 wurde das Pflaster immer wieder aufgerissen, um neue Versorgungsleitungen zu verlegen. Die Vorgärten zwischen Rhein- und Fregestraße verschwanden und mussten Parkhäfen Platz machen. Gleichzeitig gab es eine neue Straßenbeleuchtung, bei deren Einrichtung die Behörde die nördliche Straßenseite schlichtweg erst einmal vergessen hatte. An fast allen Häusern wurde eifrig gebaut, weil Wohnraum knapp und deshalb Dachausbauten angesagt waren. Die hübsche Stadtvilla von Dr. Clemens in Nummer 15 wechselte häufig den Besitzer. Jetzt hat sich eine türkische Kulturstätte etabliert.

Das freie Grundstück Nummer 18 wurde mit einem schmalen Wohnhaus bebaut und mit der denkmalgeschützten Stadtvilla an der Ecke zur Rheinstraße verbunden. In der restaurierten Villa gibt es heute einen Imbiss und den Blumenladen der Frau Winkelmann. Das kleine Eckhaus das Bäckerei Mayer am Ende der Straße musste einem modernen Wohnhaus Platz machen. Das Ruinengrundstück in Nimmer 3a wurde zunächst mit dem Gotteshaus der neuapostolischen Gemeinde bebaut. Die Gelder für das Bauvorhaben kamen aus den USA. Das Gebäude wurde jedoch bald darauf schon wieder abgerissen. Das Ehepaar Scheibner stellte schließlich das heutige Wohn- und Geschäfthaus auf das Eckgrundstück und zog mit Edeka von der Ecke Wielandstraße 31 (ehemals Breko) dorthin um.

Später wurde auf dem Ruinengrundstück Nummer 3 noch angebaut. Heute ist Herr Görse Chef bei Edeka. Auch die ausgebrannte Ruine in Nummer 7 wurde abgetragen, um dort ein Wohnhaus zu errichten. In der Hedwigstraße pulsierte aus meiner Sicht als Geschäftsfrau immer reges Leben. Trotzdem hat die Straße ihnen Kiez-Charakter bewahren können, wenn es auch heute nicht mehr so familiär zugeht wie vor 50 Jahren.

Ursula Koglin

Bild 1: Rathaus Friedenau, vorn Ecke Hedwickstraße
Bild 2: Kinderhaus Friedenau, Hedwickstraße 13
Bild 3: Hedwickstraße 8, Landhaus 1888