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Jahrbuch 2001 für Steglitz -

Vor 120 Jahren: Die erste elektrische Straßenbahn der Welt in Lichterfelde

Vor 120 Jahren wurde die erste elektrische Straßenbahn in Betrieb genommen. Dass dieses für die Geschichte der Technik und des Verkehrswesens hoch bedeutsame Ereignis im damaligen Groß-Lichterfelde stattfand, veranlasst uns an dieser Stelle etwas näher auf das Ereignis einzugehen.


Bahnhof Lichterfelde - Ost


Zeitgenossen der ersten elektrischen Straßenbahn weilen nicht mehr unter uns, aber alte Lichterfelder mögen vielleicht ihren Heimatort immer noch als den "Geburtsort" der Fliegerei ansehen. Den Jüngeren aber, die sich infolge der Eingemeindung Lichterfeldes in Berlin im Jahre 1920 eher als Berliner denn als Lichterfelder fühlen, sei im Zusammenhang mit unserem Straßenbahn-Jubiläum etwas Lokalpatriotismus nahegebracht.

Vor der elektrischen Straßenbahn kam die preußische Haupt-Kadettenanstalt nach Groß-Lichterfelde. Für die Herbeischaffung der Baumaterialien für diese Anstalt wurde vom Bahnhof Lichterfelde der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn, also vom heutigen Bahnhof Lichterfelde-Ost aus, eine Materialtransportbahn angelegt. Auf dieser Bahn verkehrten in den Jahren 1873-1878 ganz normale Güterzüge durchgehend von der Anhaltischen Bahn. Als nun Werner v. Siemens nach der erfolgreichen Erprobung der kleinen elektrischen Versuchslokomotive auf der Berliner Gewerbeausstellung (1879) geeignetes Gelände für eine dem öffentlichen Verkehr dienende Versuchsbahn suchte, wurde er auf die Materialtransportbahn in Groß-Lichterfelde aufmerksam gemacht. Er entschloss sich sofort, die günstige Gelegenheit zu nutzen und hier seine Versuchsbahn anzulegen. Es ging ihm natürlich nicht um eine bequeme Fahrmöglichkeit für die Kadetten, sondern es ging ihm darum, die Möglichkeit eines elektrischen Bahnbetriebes nachzuweisen. Schon damals dachte er an den Bau von Hochbahnen und betrachtete die in Lichterfelde angelegte Bahn lediglich als eine von ihrem Gerüst heruntergenommene Hochbahn.

 Der erste elektrische Straßenbahnwagen, Mai 1881

Während die Materialtransportbahn natürlich die Normalspurweite gelegt hatte, wählte Werner v. Siemens für seine Bahn die Meterspur. Unbekannt ist, ob die Gleise der Materialtransportbahn noch vorhanden gewesen waren und weiter genutzt werden konnten. Die Trasse dieser Bahn verlief ausgehend vom Bahnhof Lichterfelde der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn zunächst neben dieser bis etwa zur Schillerstraße. Nach der Überquerung der Berliner Straße verlief die Trasse längst durch das von der Goethestraße im Osten und von der Giesendorfer Straße im Westen begrenzte Gelände, sich dabei allmählich von der Goethestraße entfernend und der Giesendorfer Staße nähernd. Hier zeigen noch heute die rückwärtigen Grenzen der an beiden Straßen gelegenen Grundstücke den verlauf der Trasse an. Zu sehen ist heute von ihr allerdings nichts mehr. Nach Überquerung der Bäke-Niederung, wo später der Teltowkanal angelegt wurde, folgte die Trasse der Zehlendorfer Straße ( heute Finkensteinallee) bis hin zum Eingang der Kadettenanstalt an der Ecke der Sterntraße (heute Kadettenweg).

Über die Klassiviezierung der ersten elektrischen Bahn bestand bei den Behörden, die an dem Genehmigungsverfahren beteiligt waren, Unsicherheit: Obwohl das zu verwendende Fahrzeug dem Bauprinzip noch wie ein Pferdewagen wirkte, so wurde die Bahn doch unter Sekundärbahnen eingeweiht. Deshalb und wohl auch, weil die Bahn fast durchweg auf eigenem Bahnkörper angelegt war, wurde die neue Siemenssche Schöpfung die Bezeichnung "Elektrische Eisenbahn" gewählt. Auch die Firma Siemens & Halske, die den Betrieb führte, verwendete diese Bezeichnung noch bis 1894, obwohl die Bahn durch ihre Betriebsweise ganz zweifellos neben die Pferdebahnen zu stellen war. Gern wollen übrigens auch einige Frankfurter Lokalpatrioten unsere erste elektrische Straßenbahn nur als erste elektrische Straßenbahn gelten lassen; dann könnte nämlich die im Jahre 1882 eröffnete Bahn Frankfurt-Offenbach den Ruhm beanspruchen, die erste elektrische Straßenbahn zu sein.

Bei der elektrischen Bahn in Lichterfelde erfolgte die Strom- Hin und -Rückleitung durch die Fahrschienen und die Räder, ein Verfahren, das nur angewandt war, weil die Stromspannung nur 180 V betrug. An den Wegübergängen kam es anfangs trotzdem zu Zwischenfällen. Am 12 Mai 1881 begannen die Probefahrten und am Montag, dem 16. Mai, wurde der fahrplanmäßige Betrieb aufgenommen. Außerfahrplanmäßige Fahrten für das Publikum scheint es aber schon am 15. Mai gegeben zu haben, denn das "Teltower Kreisblatt" vom Mittwoch, dem 18. Mai 1881, schreibt: "Die elektrische Eisenbahn in Lichterfelde ist am Sonntag für die Benutzung des Publikums eröffnet worden. Vormittags war sie Betheiligung nur eine schwache, Nachmittags ab erbrachte jeder von Berlin ankommende Zug eine solche Menge von Fahrlustigen, dass der Waggon dieselbe nicht fassen vermochte, und viele, da Doppelfahrten nicht stattfanden, den Weg nach Lichterfelde zu Fuß zurücklegen mussten, in der Hoffnung, auf dem Rückweg wenigstens die Fahrt mit dem neuen Vehiculum mitmachen zu können. Dabei wurde von den Zurückgebliebenden vielfach die Gelegenheit genutzt, um sich durch Betasten der beiden Schienen mit nassen Fingerspitzen gratis elektrisieren zu lassen. Auch eine Errungenschaft der neuen Verkehrsmethode!"

Zunächst wurde der ganze Betrieb mit einem einzigen Wagen, der 12 Sitzplätze und 8 Stehplätze enthielt, abgewickelt. Die Die Fahrten wurden im Anschluss an die Eisenbahnfahrten von bzw. nach Berlin durchgeführt. Über mehrere Jahre enthielt der Fahrplan nur etwa 12 Fahrten in jeder Richtung. Der geforderte Fahrpreis von 20 Pfennig war für die in 10 Minuten durchfahrene 2,45 km lange Strecke recht hoch. Doch glaubte die Firma Siemens & Halske zu eigener Fahrpreisforderung in dieser Höhe berechtigt zu sein, da ein gewinnbringender Betrieb wegen der dünnen Besiedelung und des dementsprechend geringen Verkehrsaufkommens nicht zu führen war. Die neugierigen Sonntagsbesucher aus der Reichshauptstadt waren kein Ausgleich für die wenigen einheimischen Besucher der Bahn an den Werktagen.

Über einige Zwischenfälle in der ersten Zeit des Betriebs berichtet uns wieder das "Teltower Kreisblatt". Es schreibt am 25 Mai 1881 "Die Schienender elektrischen Bahn in Lichterfelde sind jetzt bis zum Empfangsgebäude der Anhaltischen Eisenbahn gelegt, wer den jedoch in den nächsten Tagen noch nicht befahren werden. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass, wenn Pferde die Schienen betreten, während der Strom zirkuliert, sie mehr oder weniger heftige Schläge erhalten. So geschah es Ende der vorigen Woche dem Pferde einer Berliner Droschke, welches stürzte, und dem eines hiesigen Bewohners, welches zitternd davonlief. Die Ingeneure werden nun die Leitung an den Überfahrstellen unterirdisch herstellen. Mit der Frequenz in der ersten Betriebswoche kann die Verwaltung zufrieden sein, sie müsste nur mehr Wagen anstellen, um die zahlreich erscheinenden Berliner auch befördern zu können."

Erst am Ende des Jahres 1881 wird ein zweiter Wagen in Betrieb gesetzt. An Sonntagen fuhren dann beide Wagen zusammengekoppelt, da Ausweichungen nicht vorhanden waren.
Die Kraftstation und die Wagenhalle befanden sich auf dem Gelände des Lichterfelder Wasserwerks im Winkel zwischen der Eisenbahn und der Bogebstraße (etwa Bogebstraße Ecke Prinzenstraße).
Wie man es mit anderen Gegenständen der Heimatgeschichte geschieht, so geschah es auch mit der "alten Lichterfelder Bahn": Mit der allmählichen Veränderung der Betriebsweise, der Wagen, der Straßennamen, der Bahnhofsnamen verlor sich die Kenntnis über viele Einzelheiten, schließlich die Kenntnis über die wesentlichen Merkmale der Bahn. Mit Bedauern müssen wir konstatieren, dass sich viele Fehler in die Chronik dieser Bahn einzuschleichen versucht haben. Da aus Lichterfelder Sicht der Bahnhof Lichterfelde der Berlin-Anhaltischen Eisenbahn eben der Anhalter Bahnhof war, konnte es passieren, dass in späteren Jahrzehnten unsere kleine Lichterfelder Elektrische zu einer Straßenbahnlinie von der Kadettenanstalt zum Anhalter Bahnhof in Berlin aufgeputzt wurde. Für eine Versuchsbahn mit Straßenbahncharakter, als die sie doch ihren Lebensweg angetreten hatte, wäre das im Jahre 1881 eine ganz unmögliche Entfernung gewesen. Auch mit der Berliner Gewerbe-Ausstellung in Treptow (1896) wurde die Bahn in Verbindung gebracht. In dem Büchlein "Steglitz in Vergangenheit und Gegenwart" schreibt Max Philipp:  "Die elektrische Bahn hatte sich bewährt. Um sie aller Welt vorführen zu können, wurde eine besondere Linie eingerichtet, die nach Treptow fuhr". Unsere Lichterfelder Bahn fuhr nie nach Treptow und auch ihre Nachfolger nicht. Mit dieser Formulierung vermengt Max Philipp zwei unabhängige - zu ganz verschiedenen Zeiten entstandene - Bahnbetriebe der Firma Siemens & Halske.

Für die Geschichte der ersten elektrischen Straßenbahn war das Jahr 1890 von großer Bedeutung. Nicht nur, dass in diesem Jahre die Straßenbahn durch die Sternstraße bis zum Bahnhof Lichterfelde der Berlin-Potsdam-Magdeburger Eisenbahn, dem heutigen Bahnhofe Lichterfelde West, verlängert wurde, sondern vor allem, dass auf diesem Verlängerungsstück erstmals der von dem Ingeneur W.Reichel erfundene Stromabnehmerbügel angewendet wurde, verdient unsere Aufmerksamkeit. An der Stelle, wo die neue Strecke an die alte anschloss, gab es eine besondere Vorrichtung, die eine selbsttätige Umschaltung der Stromzuführung während der Fahrt bewirkte.


Mit der Aufgabe der unattraktiv gelegenen alten Strecke und dm Streckenaufbau in der Wilhelmstraße (heute
Königsberger Straße) im Jahre 1893 wurde auch in Lichterfelde - Ost der Betrieb durch Einführung der elektrischen Oberleitung modernisiert. Schließlich entstand zwei Jahre später mit dem Bau zweier Straßenbahnlinien von Lichterfelde zum Bahnhof Steglitz und einer Linie von Steglitz nach Südende in unserem Bezirk ein leistungsfähiges Straßenbahnnetz, in das die dem Versuchsstadium entwachsene alte Lichterfelder Bahn - nun auch offiziell eine Straßenbahn - eingegliedert war. Dieses Siemensche Straßenbahnunternehmen führte den Namen "Elektrische Straßenbahn Groß-Lichterfelde - Lankwitz - Steglitz - Südende". Es ging durch Kauf
am 1. April 1906 an den Kreis Teltow über.

Vormals verlängerte Wilhelmstrasse, seit 1939 Oberhoferweg

Über das Ende der beiden ältesten Straßenbahnwagen der Welt ist nichts Verlässliches bekannt. Ein Berliner Verkehrshistoriker (H. Bombe, 1968 f) berichtete, dass man ihm bereits bei einem Besuche der Teltower Kreisbahnen im Jahre 1910 gesagt habe, dass der älteste Straßenbahn-Triebwagen "vor langer Zeit" verbrannt sei. Aber auch sonst erinnert nichts in Lichterfelde daran, dass es die Geburtsstätte des elektrischen Straßenbahnbetriebes ist. Die letzten Straßenbahnnetze auf einen Teil der historischen Trasse, die Gleise in der Finkensteinallee, verschwanden bald nach der dortigen Streckenstillegung (1963); sie waren seit 1928 normalspurig, und die Linie 74, die dort verkehrte, hatte keinerlei traditionelle Beziehung zu unserer ersten elektrischen Straßenbahn.
Angesichts der zahlreichen Denkmäler, die in Lichterfelde den Anfängen der Fliegerei gewidmet sind, bedauern wir, dass die erste elektrische Straßenbahn noch nirgendwo eine Stätte der Erinnerung gefunden hat.


Heinz Jung