Zurück zum Inhaltsverzeichnis..zurück


Jahrbuch 2000 für Steglitz - Albert-Schweitzer-Heim

Vom Jugendheim zur Diskothek

Was Rhytmus bedeutete, lernte ich 1956 im Alter von sieben Jahren, nicht in der Schule, sondern von meinem Vater. Die Leute unter uns hatten eine Tochter im Teenageralter. Immer wenn sie zu Hause war, dröhnte aus dem Radio Bill Haleys "ROCK AROUND THE CLOCK", natürlich nicht in Zimmerlautstärke, sondern volle Pulle.

Schon die ersten Töne riefen meinen Vater auf den Plan. Wie von der Tarantel gestochen sprang er vom Sofa hoch, riss die Tür des Besenschrankes auf, holte den Hammer aus der Werkzeugkiste und rannte in den Flur. Auf dem Fußboden kniend, hämmerte er den Rhytmus im Takt dazu. Dabei rief er: "Diese verdammte Negermusik, das hält ja keiner aus!"

Meine ersten Tanzschritte brachte mir meine Jugendfreundin Marina im Schlafzimmer ihrer Mutter vor dem Spiegel des Kleiderschrankes bei. Da ich mich erst einmal ziemlich blöd anstellte und steif wie ein Holzklotz war, zeigte sie mir, wie man sich beim "TWIST" biegen und verrenken kann. Doch nachdem mir die Hose zweimal geplatzt war, lernte ich schnell, und bald konnte ich richtig "abhotten". 1963 ging ich dann zum ersten Mal in das Albert-Schweitzer-Jugendheim zum Tanzen. Im Wechsel mit den beiden anderen Jugendheimen, Flemmingheim in der Flemmingstraße und Folke Bernadotte Heim am Jungfernstieg, fanden Sonnabends von 18-22 Uhr Tanzabende für die Jugend statt. Es spielten Beat Bands wie "THE TWANGY GANG", "THE REBEL GUYS" und andere.

Schon eine halbe Stunde vor Einlass stand ich mit meinen Freunden Dieter und Baddy in der langen Schlange der Wartenden. Herausgeputzt wie die Stutzer in weißen Nyltesthemden mit einer goldenen Nadel durch die Kragenspitzen, daumenbreiten schwarzen Schlipsen und in pepitagemusterten Hosen mit schwarzer Kappnaht an den taschen. Dazu trugen wir rotschwarz gestreifte Perlonsocken und die überaus beliebten schwarzen Wildlederschuhe mit Toreroabsatz.

Dann war es endlich soweit, und die Meute der Jugendlichen schob sich in den großen Saal im Schweitzerheim. Mein erster Blick fiel auf die große Bühne, wo die band gerade ihre Anlage aufbaute. An den Wänden entlang und im hinteren Bereich des Saales standen Stühle und Tische, die mich irgendwie an die aus der Schule erinnerten. Vor der Bühne gab es eine große Tanzfläche. Mit Staunen starrte ich vor der Bühne stehend den Gitarristen an, der gerade sein Instrument stimmte. Hinter mir unterhielten sich gerade zwei Jungs: "Die haben ja Verstärker von VOX", meinte der eine, während der andere auf die Gitarre zeigte und bewundernd antwortete "... und die Gitarre sieht aus wie die von John Lennon". "Schau mal, der hat ja eine Frisur wie Paul McCartney", rief ein Mädchen neben mir ihrer Freundin zu. Mein lieber Mann, dachte ich, da haste ja kaum eine Chance, hier eine kenennzulernen bei deiner Frisur. Mein Vater hatte mir verboten wie ein verlauster Artist rumzulaufen. Doch in Gedanken sah ich mich da oben stehen anstelle des Musikers.

Aus den Augenwinkeln heraus sortierte ich schon die Mädchen, welche ich zum Tanzen auffordern würde. Als die Band ihren ersten Song ankündigte, rannte alles durcheinander. Jeder wollte zu seinem auserwählten Tanzpartner und im Nu war die Tanzfläche gerappelt voll. Kurz bevor ich meine Auserwählte erreichen konnte, kam es fast noch zu einer Schlägerei, als ich in dem Durcheinander einem Älteren die Cocaflasche aus der Hand schlug. Inzwischen schwebte das Mädchen schon mit einem anderen in Richtung tanzfläche. Letztendlich forderte ich eine von den "Mauerblümchen" auf und stürzte mich in die tanzende Menge. Bei meinen wild ausholenden Twistbewegungen rempelte ich ein anderes Tanzpaar an. "Wenn du nicht richtig twisten kannst, dann haste hier nischt verloren", ranzte mich der andre an.

Nachdem ich in der darauffolgenden Zeit zwei "Körbe" bekam, zog ich mich beleidigt zurück. Nach einer Viertelstunde machte die Band erstmal Pause. Viele gingen mit ihren Mädchen vor die Tür, während ich mit anderen in einen kleinen Raum ging, wo man die neuesten Schallplatten hören konnte. Als ich mit einer Colaflasche in der Hand in den Saal zurückkam, spielte die Band gerade Blues, und auf dem Weg durch den halbdunklen Raum trat mir einer auf meine schönen schwarzen Wildlederschuhe. Bevor ich dem anderen an den Kragen gehen konnte, rempelte mich ein Mädchen an. Im Nu stand ich mit ihr auf der Tanzfläche und engumschlungen tanzte ich, betäubt von ihrem Parfümduft auf Wolke sieben. Zu schnell war das langsame Musikstück zu Ende, und als es wieder hell wurde, war auch das Mädchen verschwunden.

Als Getränk bekam man im Schweitzerheim nur CocaCola oder Fanta. Diese kleinen Flaschen spielten bei dem nun angesagten Song die Hauptrolle. "Auf vielfachen Wunsch spielen wir nun 'SKINNY MINNY' von Tony Sheridan", rief der Sänger der Band in den Raum. Tosendes Gegröle erklang und schon beim ersten Ton hämmerten alle wie die Bekloppten mit den Flaschen den Takt dazu auf die Tische. Oft dache ich dabei an meinen Vater, der Jahre zuvor dasselbe mit dem Hammer auf dem Fußboden gemacht hatte.

1964 kamen die Twisthosen groß in Mode. Der Hosenbund endete kurz vor dem Hintern, an den Schenkeln war sie knalleng, und die Fußweite wies gigantische Weiten auf, in "Fachkreisen" 60er Schlag genannt. Die meisten kauften sich diese Hosen von der Stange. Wer Geld hatte, kaufte sich bei Hertie Stoff und ließ sich seine Twisthose vom Schneider Helmrich in der Knesebeckstraße maßschneidern. Zu den beiden normalen Klapptaschen der Hose ließ man sich noch weitere kleinere auf die Oberschenkel nähen. In so einer Hose gewann ich einmal beim Preistanz den 1. Preis im Follke-Bernadotte-Heim. Doch der 1. Preis beim Tanzen war bei weitem nicht so schwer erkämpft, wie der Preis meiner Twisthose -die mich das Taschengeld von einem halben Jahr gekostet hatte.

Genauso schnell wie die Musikrichtung, die Mode und die Interessen der Jugendlichen, schossen neue Tanztreffs aus dem Boden. Während ich die Langhaarigen mehr zum berüchtigten "WHITE HORSE", einem ehemaligen Kino am oberen Ende des Ostpreußendamms, zuwendeten, zog es die Modebewussten zu den Diskotheken, in denen die neue "SOULMUSIK" ihren Siegeszug antrat.

In der Albrechtstraße in Steglitz eröffnete 1966 eine supermoderne Diskothek. Sie hieß "SWEET BEAT" und war schnell eine große Konkurrenz für den "BIG APPLE" in Wilmersdorf. Zum ersten MAl zogen Jugendliche nicht zum Ku'damm um dort üzu tanzen, sondern das "SWEET BEAT" war angesagt. Schon vom weitem sah man die schwarze katze, das Erkennungszeichen in roter Leuchtschrift an der seitlichen Hausfront.

Dazu kam noch die Leuchtreklame "Modellrennbahn" direkt über den Eingang. Die Innenausstattung war im Vergleich zum Jugendheim und zum "WHITE HORSE" geradezu luxuriös. Ein langer Tresen an der Bar, eine Diskokugellampe, deren buntes Licht sich in den Messingplatten der Tanzfläche spiegelte. Die mit rotem Stoff gepolsterten Bänke in Nischen waren durch Blumenkästen getrennt. Entlang der Wände gab es stufenförmig zur Tanzfläche herunter angelegte Sitzmöglichkeiten mit kleinen Tischen davor. Der Diskjockey thronte in einer offenen Kabine, die etwas erhöht war, umgeben von massenhaft der neuesten Soulscheiben. Im Keller war eine Modellrennbahn für Autos aufgebaut. Während sich Rennfanatiker wilder Rennen lieferten, bekämpften sich an den beiiden Fußballkickern die Tischfußballer. Die Wetten gingen meist um einen halben Liter Bier oder um fünf Currywürste von Krasselt. Langhaarige in Lederjacken wurden nicht eingelassen, es sei denn, sie kannten einen, der einen von den Kellnern kannte.

Ich war immer hin- und hergerissen. Einerseits ging ich gerne mit den Kumpels ins "WHITE HORSE", wo es fast jeden Abend zwischen langhaarigen Deutschen und den Amis Schlägereien gab, andererseits zog es mich aber auch zum "SWEET BEAT", weil da die besseren "Bräute" waren. Wieder einmal kostete es mich eine Menge Geld, um die richtigen Klamotten zu kaufen, mit denen ich mich dort sehen lassen konnte. Meine Haare trug ich inzwischen auch etwas länger, und ich ließ mir lange Koteletten stehen, in Fachkreisen "Balken" genannt.

Bei Selbach, einer Boutique am Kurfürstendamm, erstand ich ein eng tailliertes Hemd mit großem Kragen und eine schrille Krawatte, die in einem faustgroßen Knoten gebunden wurde. Dazu kam eine sogenannte "Big-Apple-Hose" mit Stresemannstreifen. Das ebenso taillierte Sakko, die weißen Socken und Schnallen-Slipper auf Collegeart ließen meinen Monatsverdienst auf ein Minimum schrumpfen. Als ich dann am Samstagabend den Eltern tschüss sagte, fragte mein Vater, ob ich als Clown zum Zirkus gehen wolle. Die anerkennenden Blicke der am Eingang zum "SWEET BEAT" stehenden Diskotänzer ließen meine Brust schwellen. Ich wurde als einer von ihnen angenommen. Die Zigarette lässig im Mundwinkel haltend, bahnte ich mir einen Weg in das innere. Laut dröhnende Musik von Otis Redding riss einem die Worte wie Fetzen aus dem Mund. Nach zweimaligem Umkreisen der Tanzfläche hatte ich eine dunkelhaarige Schönheit mit Courègeschnitt entdeckt. In einem schreiend bunten Twinset, weißer Bluse mit Rüschen, in der man bei ultraviolettem Licht den BH sehen konnte, stand sie auf der anderen Seite der Tanzfläche. Erst ein Blick, dann ein Lächeln und schon wühlte ich mich durch die Tanzenden, um zu ihr zu gelangen. Denselben Einfall hatte aber auch der Typ neben mir. Und so kam es zu einem Wettrennen zwischen uns. Doch diesmal war ich der Gewinner. Den ganzen Abend war ich mit dem Mädchen zusammen.

Die Älteren konnten sich schon ein Auto leisten. Mein damaliger Freund Guy fuhr ein Fiat 600 mit roten Stofftroddeln an den Seiteninnenscheiben und einer Abbart-Auspuffanlage, die bei halb geöffneter Motorhaube für den erwünschten Krach sorgte. Während er spät in der Nacht mit seiner neuen Eroberung davonpreschte, musste ich meine "Püppi" mit dem Bus bis nach Wannsee nach Hause begleiten. Natürülich verpasste ich den letzten 48er und konnte zu Fuß nach Steglitz zurücklaufen.

Doch seien Sie mal ehrlich, war es nicht eine schöne Zeit?!
 
 

Michael Lorenz