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Jahrbuch 2000 für Steglitz - Das Eisenbahnunglück in Steglitz (1883)

Das Eisenbahnunglück in Steglitz von 1883

Zur Zeit unserer Urgroßeltern besaß Steglitz schon eine stattliche Zahl Häuser. Das Wilmersdorfer und das Schöneberger Feld bis zur Dahlemer Grenze waren zwar noch Acker- und Gartenland, aber beiderseits der Bahn stand doch schon eine Reihe von Wohnhäusern mit schönen Gärten. Viele neue Straßen waren angelegt worden. Die Albrecht-, Birkbusch- und die Nebenstraßen trugen bereits ihre heutigen Namen.

Weit draußen an der Bergstraße lag das Schützenhaus. Hierher zogen regelmäßig am Sonntag die Steglitzer Schützen zum Übungs- und Wettschießen. Oft hatten sie auch einen Berliner Schützenverein eingeladen, mit dem sie ihre Schießkünste maßen und der viele andere Gäste mitbrachte. Auch der sonstige Verkehr mit Berlin war reger geworden. Immer mehr Steglitzer fuhren morgens zu ihren Berliner Arbeitsstätten und kehrten abens wieder heim. Immer mehr Berliner fuhren auch nach Steglitz, um Bekannte oder Verwandte zu besuchen oder um sich zu erholen. Schon längst kam die Bahn nicht mehr mit zwei bis drei Zügen am Tag aus. Ein regelmäßiger Vorortverkehr brachte jetzt stündlich Hunderte von Menschen. Außerdem durchfuhren Fern- und Eilzüge Steglitz, allerdings ohne hier zu halten.

Die Bahnhofsanlagen waren aber nicht für einen so starken Zugverkehr gebaut worden. So mussten die Reisenden erst die Fernbahngleise überschreiten, wenn sie in den Vorortzug einsteigen wollten. Bei starem Andrang hatte der Bahnhofsvorsteher oft Mühe, ein Unglück zu verhüten. Auch die Schrankenwärter an der Berg- und Albrechtstraße hatten einen schweren Dienst. Immer wieder mussten sie die Schranken schließen, damit nicht Fahrzeuge oder Fußgänger von den dahinbrausenden Zügen erfasst wurden. Oft schon war ein Unfall wie durch ein Wunder gerade noch vermieden worden. Aber auf die Dauer konnte das Unheil doch nicht aufigehalten werden.
 

Es war am 2. September 1883. Ein herrlicher Sonntag ging zu Ende. Wieder waren einige hundert Berliner nach Steglitz gekommen. Zu ihnen gehörten die Mitglieder der Berliner Feuerwerkerschule und des Schützenvereins "Freundschaft", die im Garten des Schützenhauses, ein "Vogelschießen" veranstaltet hatten. Schon standen die Reisenden wieder vor dem Bahnhof. Wenige Minuten vor 10 Uhr abends sollte der Personenzug nach Berlin abfahren. Plaudernd warteten die Feuerwerker und die Schützen in Gruppen. Dazwischen drängten sich andere Ausflügler, im ganzen etwa 300 Menschen.

Noch war der Personenzug nicht eingetroffen. Wegen des starken Andrangs auf allen Bahnhöfen hatte er sich verspätet. Da die Sperren noch geschlossen waren, die Reisenden also noch vor den Fernbahngleisen warteten, wollte der Bahnhofsvorsteher den schon gemeldeten Fernzug erst durchfahren lassen. In diesem Augenblick fuhr auf seinem Gleis der Personenzug ein und hielt.

"Warum lässt man uns nicht hinüber?", riefen einige Ungeduldige.

"Mach doch die Sperre auf!", erscholl es jetzt schon drohend aus der Menge der Wartenden. Die Hintenstehenden drängten nach vorn. Mit Gewalt hielten die Beamten die aufgebrachten Menschen noch zurück.

"Erst den Eilzug passieren lassen, dann einsteigen!", riefen sie.

Aber in dem Lärm der Menge verstand niemand die warnenden Worte. Ein paar Hitzköpfe hatten sich schon nach vorne gedrängt. Schon hatten sie die Sperre geöffnet, und erfreut stürzte alles über die Fernbahngleise auf den Personenzug.

Da brauste der Fernzug auch schon heran.

"Der Zug kommt!", ertönte jetzt ein vielstimmiger Schreckensruf.

Zu spät. Mit voller Geschwindigkeit fuhr der Zug in die Reisenden hinein. Der Lokführer bremste zwar sofort, aber 70 Verunglückte mussten mit ihrem Leben oder ihrer Gesundheit für ihren Leichtsinn und ihre Unvernunft büßen.

An diesem Tage gab es viele Trauerhäuser in Berlin. Die Feuerwerker beklagten den Tod zweier Männer und zweier Frauen. Der Schützenverein musste gar 12 Kameraden das letzte Geleit geben. Unter den Toten war auch der neue Schützenkönig, der Büchsenmacher Peters. Auf dem Luisenstadt-Friedhof in Rixdorf (Neukölln) wurden über den offenen Gräbern die Ehrensalven abgegeben.

Nach dem Unglück ging man endlich daran, die Gleis- und die Bahnhofsanlagen umzubauen. Der Bahnhof erhielt einen Tunnel unter den Gleisen mit einen Treppe, die unmittelbar zum Vorortbahnsteig führte. Damit war die Hauptgefahrenstelle beseitigt. Die Albrecht- und die Bergstraße wurden als Unterführungen angelegt. So konnten auch die Schranken verschwinden. Da das Bahnhofsgebäude inzwischen abgerissen worden ist, erinnert nur noch die Unterführung an das schreckliche Eisenbahnunglück in Steglitz.