Jahrbuch 2000 für Steglitz - Eine Reise nach
Lichterfelde
Eine Reise nach Lichterfelde
Nachstehende
amüsante Geschichte, die 1927 im damaligen "Lichterfelder Lokalanzeiger"
erschien, stammt aus der Feder der Gattin Gustav Lilienthals, Anna Lilienthal.
Es mag heute wie ein Märchen anmuten daß man vor fast achtzig
Jahren immerhin einen ganzen Tag brauchte, um von Berlin nach Lichterfelde-Ost
zu gelangen. Unser Bild zeigt den Bahnhof Lichterfelde/ Potsdamer Bahn,
den nachmaligen Bahnhof Lichterfelde-West, im Jahre 1900, in dessen "Wartehalle"
die Lilienthalverwandten eine Nacht kampieren mußten.
Das war im Jahre 1890. Der alte Herr schob die Brille auf die Stirn,
die Zeitung beiseite und lugte um die Petroleum- Hängelampe herum
zur Sofaecke, in der seine Frau bereits leise eingenickt war. "Mutter,
wollen doch die Kinder in ihrer neuen Villa in Lichterfelde besuchen. Es
fährt gerade ein Extrazug nach Berlin." Mutter fuhr erschreckt in
die Höhe. "Berlin!" Dahin getraute sie sich nicht. Da passierte zu
viel Fürchterliches. Beide waren aus ihrem kleinen Wohnort im Plauenschen
Grund über Dresden nie hinausgekommen. "Wir steigen schon vor Berlin
aus", beruhigte der Gatte. "Der Zug fährt ja durch Lichterfelde."
Na, das war ein Trost, und es ging nun ans Packen. Mäntel, Wäsche,
Schirme, Proviant, als gelte es, eine Reise durch die unwirtlichen Steppen
Sibiriens anzutreten. - Die Stunden auf der Fahrt vergingen unseren guten
Sachsen sehr angenehm in gemütlichem Plaudern mit den Reisegenossen.
"Jetzt kommt Lichterfelde", sagte ein Fahrgast. Schon standen sie mit Taschen
und Paketen, Hand an der Türklinke, zum Aussteigen gerüstet,
"aber bleiben Se man ruhig sitzen, der Zug hält nicht in Lichterfelde",
setzte der Berliner mit der dieser Menschenrasse eigentümlichen Wurstigkeit
hinzu. Gutmütig trat er zu den Enttäuschten ans Fenster. "Sehen
Sie mal, da hinten rechts, das ist die Boothstraße und da wohnt Ihr
Schwiegersohn", auf ein Schieferdach, das niedriger als alle anderen aus
jungen Anlagen freundlich herüberwinkte, deutend. "Wir wollten so
gerne beim Frühstück überraschen", klagten die alten Leute.
"Fahren Sie vom Anhalter Bahnhof direkt nach Lichterfelde und überraschen
Sie zum Mittagbrot", tröstete der andere. "Berlin! Alles aussteigen!"
Hasten, Lärmen, Durcheinanderwimmeln! "Zug nach Lichterfelde?" Man
schreit den Fragenden etwas zu, weist nach rechts hinüber.
Richtig, da stand der Zug, alles rannte schon dorthin. Eiligst die Koffer
hineingeschoben, die Frau hinterher, nachgesprungen, da setzt sich der
Zug schon in Bewegung. Man atmet auf, man hat es gerade noch geschafft.
- Erstaunlich schnell nähert man sich wieder Lichterfelde und rüstet
zum Aussteigen. "Bleiben Se man sitzen, der Zug hält nicht in Lichterfelde",
läßt sich wieder eine Stimme hören. Sie waren in den Schnellzug
gestiegen, der sie nun zum zweiten Male dem Ziel ihrer Sehnsucht so nah
und doch so unerreichbar zuführen sollte, und ihnen nur im Vorbeisausen
einen wehmütigen Gruß aus der Ferne gestattete. Als sie nach
einer Stunde wohlbehalten in Luckenwalde aussteigen, erwartet sie dort
die Hiobsbotschaft, daß erst am Abend wieder ein Zug nach Berlin
geht. "Der hält aber nicht in Lichterfelde", sagt der Beamte ganz
kalt und fühllos für diese schreckliche Tatsache.
Was
half's, man mußte bis zum Abend in Luckenwalde bleiben. Wieder sausten
sie durch Lichterfelde, zum dritten Male das friedliche Dach der kleinen
Villa, aus dessen Schornstein jetzt leichter Rauch kerzengerade in die
stille, klare Abendluft emporstieg, mit nassen Augen aus der Ferne grüßend.
"Jetzt essen sie dort schon Abendbrot", klagte die Mutter. Die Kleinen
schlafen schon, ehe wir hinkommen." Bald stand man wieder auf dem Anhalter
Bahnhof. Aber nun den richtigen Zug." - "Jawohl", leider dampfte der ihnen
gerade vor der Nase ab, und zwar der letzte, der heute von hier nach Lichterfelde
abging. Was nun? In Berlin übernachten war eine Extravaganz, zu der
man sich nicht einmal in Gedanken verstieg. Ein Schaffner nahm sich der
Verzweifelten an. "Vom Potsdamer Bahnhof geht noch ein Nachtzug nach Lichterfelde,
wenn Se rennen, kriegen Se den noch." Gesagt, getan. Mit dem Aufwand letzter
Kräfte erreicht das Paar den letzten Zug und kommt nun wirklich nach
Lichterfelde und damit zum Höhepunkt dieser Reisetragödie. Der
Platz, an dem man die müden Wanderer zum Aussteigen nötigte,
hatte mit unserem Bahnhof West damals noch nicht die geringste Ähnlichkeit
Ein paar Schienenstränge, denen das Auge in endlose Fernen folgen
konnte, eine dürftige Bretterbude auf der Dahlemer Seite, "die Wartehalle"
genannt. So weit das Auge blicken konnte nach allen Himmelsrichtungen nur
Gegend, nichts als Gegend, über die nun der Nachthimmel sein dunkles
Zelt spannte. Über niedriges wild verwachsenes Gebüsch, das sich
am Bahnhof beginnend bis zur Karlstraße hinzog und in dein es nicht
recht geheuer war, sah das geschärfte Auge nach Süden zu über
freies Feld hinweg einige Lichter und erkannte die dunklen Umrisse eines
Turmes, das Wahrzeichen der Kadettenanstalt.
Da
niemand hier eine Ahnung von der im Osten des Ortes liegenden Boothstraße
hatte, nahm sich der Zugführer der Todmüden an, er riskierte
eine dienstwidrige Handlung, indem er ihnen den Aufenthalt in der Wartehalle
bis 5 Uhr morgens, zu welcher Zeit der Bahnbetrieb erst wieder einsetzte,
gestattete. Das wurde mit Dank angenommen. Der gute Beamte schloß
pflichtgemäß die Bude mit allem was darinnen war, zu, die Reisenden
machten sich's auf den harten Bänken bequem und verbrachten die Nacht
in Sicherheit und dem schönen Gefühl, in Lichterfelde zu sein.
Um 5 Uhr pünktlich öffnete man ihren Käfig, lahm und steif
krochen sie heraus, machten sich auf den Weg und landeten nach einigen
Um- und Irrwegen endlich glücklich in der Boothstraße. "Wer
klingelt so früh an unserer Pforte", riefen die Bewohner des Häuschens
in der Boothstraße. Und sprangen erschreckt aus den Betten. Ja, da
standen die alten Eltern, zwar sehr ermüdet von der sonderbaren Nachtruhe,
aber froh im Hafen zu sein. Die Überraschung glückte vollkommen
und ein gemütliches Frühstück im Kreise von Kindern und
Enkeln wird es auch wohl gewesen sein.
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